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Читать: Немецкий с любовью. Новеллы / Novellen - Стефан Цвейг на бесплатной онлайн библиотеке Э-Лит


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Ich zögere einen Augenblick. Die ganze Zeit schon prickelt[159] in mir ein Argwohn[160]: ich spüre, diese Frau will etwas von mir, man kommt nicht in eine Wildnis, um über Flaubert zu sprechen. Eine, zwei Minuten lasse ich sie warten. „Verzeihen Sie“, sage ich dann geradewegs, „darf ich einige Fragen ganz frei stellen?“

„Gewiss, Doktor! Sie sind doch Arzt“, antwortete sie, aber schon wendet sie mir wieder den Rücken und spielt mit den Büchern.

„Haben Sie Kinder gehabt?“

„Ja, einen Sohn.“

„Und haben Sie… haben Sie vorher… ich meine damals… haben Sie da ähnliche Zustände gehabt?“

„Ja.“

Ihre Stimme ist jetzt ganz anders. Ganz klar, gar nicht mehr nervös. „Und wäre es möglich, dass Sie… verzeihen Sie die Frage… dass Sie jetzt in einem ähnlichen Zustande sind?“

„Ja.“

Wie ein Messer scharf und schneidend lässt sie das Wort fallen.

„Vielleicht wäre es da am besten, gnädige Frau, ich nehme eine allgemeine Untersuchung vor… darf ich Sie vielleicht bitten, sich… sich in das andere Zimmer hinüber zu bemühen?“

Da wendet sie sich plötzlich um. Durch den Schleier fühle ich einen kalten, entschlosseneren Blick mir gerade entgegen. „Nein… das ist nicht nötig… ich habe volle Gewissheit über meinen Zustand.““

Die Stimme zögerte einen Augenblick. Wieder blinkert im Dunkel das gefüllte Glas.

„Also hören Sie… aber versuchen Sie zuerst einen Augenblick sich das zu überdenken. Da drängt sich zu einem, der in seiner Einsamkeit vergeht, eine Frau herein, die erste weiße Frau betritt seit Jahren das Zimmer… und plötzlich spüre ich, es ist etwas Böses im Zimmer, eine Gefahr. Denn was sie von mir wollte, wusste ich ja, wüsste ich sofort – es war nicht das erste Mal, dass Frauen so etwas von mir verlangten, aber sie kamen anders, kamen verschämt oder flehend, kamen mit Tränen und Beschwörungen. Hier aber war eine männliche Entschlossenheit… von der ersten Sekunde spürte ich, dass diese Frau stärker war als ich… dass sie mich in ihren Willen zwingen konnte, wie sie wollte… Aber… aber… es war auch etwas Böses in mir… der Mann, der sich wehrte, irgendeine Erbitterung, denn… ich sagte es ja schon… von der ersten Sekunde, ja, noch ehe ich sie gesehen, empfand ich diese Frau als Feind. Ich schwieg zunächst. Ich spürte, dass sie mich unter dem Schleier ansah – sie wollte mich zwingen zu sprechen. Aber ich gab nicht so leicht nach.

Ich begann zu sprechen, aber… ausweichend[161]… Ich tat, als ob ich sie nicht verstünde, denn – ich weiß nicht, ob Sie das nachfühlen können – ich wollte sie zwingen, deutlich zu werden, ich wollte nicht anbieten, sondern… gebeten sein… gerade von ihr, weil sie so herrisch[162] kam… Ich redete also herum, sagte, dass solche Ohnmachten gehörten zum regulären Lauf der Dinge, im Gegenteil, sie verbürgten[163] beinahe eine gute Entwicklung. Ich sprach lässig und leicht…wartete immer, dass sie mich unterbrechen würde. Denn ich wusste, sie würde es nicht ertragen. Da fuhr sie schon scharf dazwischen, mit einer Handbewegung gleichsam das ganze beruhigende Gerede wegstreifend.

„Das ist es nicht, Doktor, was mich unsicher macht. Damals, als ich meinen Buben bekam, war ich in bester Verfassung… aber jetzt bin ich nicht mehr allright[164]… ich habe Herzzustände…“

„Ach, Herzzustände“, wiederholte ich, scheinbar beunruhigt, „da will ich doch gleich nachsehen.“ Und ich machte eine Bewegung, als ob ich aufstehen und das Hörrohr holen wollte. Aber schon fuhr sie dazwischen. Die Stimme war jetzt ganz scharf und bestimmt – wie am Kommandoplatz.

„Ich habe Herzzustände, Doktor, und ich muss Sie bitten, zu glauben, was ich Ihnen sage. Ich möchte nicht viel Zeit mit Untersuchungen verlieren – Sie könnten mir, meine ich, etwas mehr Vertrauen entgegenbringen. Ich wenigstens habe mein Vertrauen zu Ihnen genug bezeugt.“

Jetzt war es schon Kampf, offene Herausforderung[165]. Und ich nahm sie an.

„Zum Vertrauen gehört Offenheit. Reden Sie klar, ich bin Arzt. Und vor allem, nehmen Sie den Schleier ab, setzen Sie sich her, lassen Sie die Bücher und die Umwege. Man kommt nicht zum Arzt im Schleier.“

Sie sah mich an, aufrecht und stolz. Einen Augenblick zögerte sie. Dann setzte sie sich nieder, zog den Schleier hoch. Ich sah ein Gesicht, ganz so wie ich es gefürchtet hatte, ein undurchdringliches[166] Gesicht, hart, beherrscht[167], von einer alterslosen Schönheit, ein Gesicht mit grauen englischen Augen, in denen alles Ruhe schien und hinter die man doch alles Leidenschaftliche träumen konnte. Dieser verpresste Mund gab kein Geheimnis her, wenn er nicht wollte. Eine Minute lang sahen wir einander an – sie befehlend und fragend zugleich, mit einer so kalten Grausamkeit, dass ich es nicht ertrug und unwillkürlich zur Seite blickte. Sie klopfte leicht mit dem Knöchel auf den Tisch.

Also auch in ihr war Nervosität. Dann sagte sie plötzlich rasch: „Wissen Sie, Doktor, was ich von Ihnen will, oder wissen Sie es nicht?“

„Ich glaube es zu wissen. Aber seien wir lieber ganz deutlich. Sie wollen Ihrem Zustand ein Ende bereiten… Sie wollen, dass ich Sie von Ihrer Ohnmacht, Ihren Übelkeiten befreie, indem ich… indem ich die Ursache beseitige. Ist es das?“

„Ja.“

Wie ein Fallbeil[168] zuckte das Wort.

„Wissen Sie auch, dass solche Versuche gefährlich sind… für beide Teile…?“

„Ja.“

„Dass es gesetzlich mir untersagt ist?“

„Es gibt Möglichkeiten, wo es nicht untersagt[169], sondern sogar geboten ist.“

„Aber diese erfordern eine ärztliche Indikation.“

„So werden Sie diese Indikation finden. Sie sind Arzt.“

Klar, ohne zu zucken, blickten mich ihre Augen dabei an. Es war ein Befehl. Aber ich krümmte mich noch, ich wollte nicht zeigen, dass ich schon zertreten war. – „Nur nicht zu rasch! Umstände machen! Sie zur Bitte zwingen“, funkelte in mir irgendein Gelüst[170].

„Das liegt nicht immer im Willen des Arztes. Aber ich bin bereit, mit einem Kollegen im Krankenhaus…“

„Ich will Ihren Kollegen nicht… ich bin zu Ihnen gekommen.“

„Darf ich fragen, warum gerade zu mir?“

Sie sah mich kalt an.

„Ich habe keine Bedenken, es Ihnen zu sagen. Weil Sie abseits wohnen, weil Sie mich nicht kennen – weil Sie ein guter Arzt sind, und weil Sie…“ – jetzt zögerte sie zum ersten Male – „wohl nicht mehr lange in dieser Gegend bleiben werden, besonders wenn Sie… wenn Sie eine größere Summe nach Hause bringen können.“

Mich überliefs kalt. Diese Kaufmannsklarheit der Berechnung betäubte mich. Bisher hatte sie ihre Lippen noch nicht zur Bitte aufgetan – aber alles längst auskalkuliert, mich erst umlauert und dann aufgespürt. Ich spürte, wie das Dämonische ihres Willens in mich eindrang, aber ich wehrte[171] mich mit all meiner Erbitterung. Noch einmal zwang ich mich, sachlich – ja fast ironisch zu sein. „Und diese große Summe würden Sie… würden Sie mir zur Verfügung stellen?“

„Für Ihre Hilfe und sofortige Abreise.“

„Wissen Sie, dass ich dadurch meine Pension verliere?“

„Ich werde sie Ihnen entschädigen[172].“

„Sie sind sehr deutlich… Aber ich will noch mehr Deutlichkeit. Welche Summe haben Sie als Honorar in Aussicht genommen?“

„Zwölftausend Gulden, zahlbar auf Scheck in Amsterdam.“

Ich… zitterte… ich zitterte vor Zorn und… ja auch vor Bewunderung. Alles hatte sie berechnet, die Summe und die Art der Zahlung, durch die ich zur Abreise genötigt war, sie hatte mich gekauft, ohne mich zu kennen. Am liebsten hätte ich ihr ins Gesicht geschlagen… Aber wie ich zitternd aufstand – auch sie war aufgestanden – und ihr gerade Auge in Auge starrte, da überkam mich plötzlich bei dem Blick auf diesen verschlossenen Mund, der nicht bitten, auf ihre hochmütige Stirn, die sich nicht beugen wollte… eine… eine Art gewalttätiger[173] Gier. Sie musste irgendetwas davon fühlen, denn sie spannte ihre Augenbrauen hoch: der Hass zwischen uns war plötzlich nackt. Ich wusste, sie hasste mich, weil sie mich brauchte, und ich hasste sie, weil… weil sie nicht bitten wollte. Diese eine, diese eine Sekunde Schweigen sprachen wir zum ersten Mal ganz aufrichtig[174] zueinander. Dann biss sich plötzlich wie ein Reptil mir ein Gedanke ein, und ich sagte ihr… ich sagte ihr… Aber warten Sie, so würden Sie es falsch verstehen, was ich tat…ich muss Ihnen erst erklären, wie… wieso dieser wahnsinnige Gedanke in mich kam…“ Wieder klirrte[175] leise im Dunkel das Glas. Und die Stimme wurde erregter.

„Nicht, dass ich mich entschuldigen will… Aber Sie verstehen es sonst nicht… Ich weiß nicht, ob ich je so etwas wie ein guter Mensch gewesen bin, aber… ich glaube, hilfreich war ich immer… In dem dreckigen Leben da drüben war das ja die einzige Freude, irgendeinem Stück Leben den Atem erhalten zu können… so eine Art Herrgottsfreude… Wirklich, es waren meine schönsten Augenblicke. So ein gelber Bursch kam, blauweiß vor Schrecken, einen Schlangenbiss im hochgeschwollenen Fuß, und schon heulte, man solle ihm das Bein nicht abschneiden, und ich kriegte es noch fertig, ihn zu retten. Auch so wie diese es wollte, habe ich geholfen, schon in Europa drüben in der Klinik. Aber da spürte man wenigstens, dass dieser Mensch einen brauchte, da wusste man, dass man jemand vom Tode rettete oder vor der Verzweiflung – und das braucht man eben selbst zum Helfen, dies Gefühl, dass der andere einen braucht. Aber diese Frau – ich weiß nicht, ob ich es Ihnen schildern kann – sie regte mich auf, reizte[176] mich von dem Augenblick, da sie scheinbar promenierend hereinkam, durch ihren Hochmut[177] zu einem Widerstand, sie reizte alles – wie soll ich sagen – sie reizte alles Versteckte, alles Böse in mir. Dass sie Lady spielte, unnahbar kühl ein Geschäft entrierte, wo es um Tod und Leben ging, das machte mich toll… Und dann… dann… schließlich wird man doch nicht schwanger von den Golfspielen… ich wusste… das heißt, ich musste plötzlich mit einer – und das war jener Gedanke – mit einer entsetzlichen Deutlichkeit mich daran erinnern, dass diese Hochmütige, diese Kalte, die steil die Augenbrauen über ihre stählernen Augen hochzog, als ich sie nur abwehrend… ja fast wegstoßend anblickte, dass sie sich zwei oder drei Monate vorher heiß im Bett mit einem Mann gewälzt hatte, nackt wie ein Tier und vielleicht stöhnend vor Lust, die Körper ineinander verbissen wie zwei Lippen… Das, das war der brennende Gedanke, der mich überfiel, als sie mich so hochmütig, so kühl, ganz wie ein englischer Offizier anblickte… und da, da spannte sich alles in mir… ich war besessen von der Idee, sie zu erniedrigen[178]… von dieser Sekunde sah ich durch das Kleid ihren Körper nackt… von dieser Sekunde an lebte ich nur im Gedanken, sie zu besitzen, ein Stöhnen aus ihren harten Lippen zu pressen, diese Kalte, diese Hochmütige in Wollust zu fühlen so wie jener, jener andere, den ich nicht kannte. Das… das wollte ich Ihnen erklären… Ich habe nie, so verkommen[179] ich war, sonst als Arzt die Situation zu nutzen gesucht… Aber diesmal war es ja nicht Geilheit[180], nichts Sexuelles, wahrhaftig nicht… ich würde es ja eingestehen… nur die Gier, eines Hochmuts Herr zu werden… Herr als Mann… Ich sagte es Ihnen, glaube ich, schon, dass hochmütige, scheinbar kühle Frauen von je über mich Macht hatten… aber jetzt, jetzt kam noch dies dazu, dass ich sieben Jahre hier lebte, ohne eine weiße Frau gehabt zu haben, dass ich Widerstand nicht kannte… Denn diese Mädchen hier, die zittern ja vor Ehrfurcht[181], wenn ein Weißer, ein „Herr“, sie nimmt… aber gerade diese Unterwürfigkeit[182], dieses Sklavische verschweint einem den Genuss… Verstehen Sie jetzt, wie das dann auf mich wirkte, wenn da plötzlich eine Frau kam, voll von Hochmut und Hass, verschlossen bis an die Fingerspitzen, zugleich funkelnd von Geheimnis und beladen mit früherer Leidenschaft… wenn eine solche Frau in den Käfig eines solchen Mannes, einer so vereinsamten, verhungerten, abgesperrten Menschenbestie eintritt… Das… das wollte ich nur sagen, damit Sie das andere verstehen… das, was jetzt kam. Also… voll von irgendeiner bösen Gier, vergiftet von dem Gedanken an sie, nackt, ballte ich mich gleichsam zusammen und täuschte Gleichgültigkeit[183] vor. Ich sagte kühname = "note" „Zwölftausend Gulden?… Nein, dafür werde ich es nicht tun.“

Sie sah mich an, ein wenig blass. Sie spürte wohl schon, dass in diesem Widerstand nicht Geldgier war. Aber doch sagte sie: „Was verlangen Sie also?“

Ich ging auf den kühlen Ton nicht mehr ein. „Spielen wir mit offenen Karten. Ich bin kein Geschäftsmann… ich bin nicht der arme Apotheker aus Romeo und Julia, der für „corrupted gold“ sein Gift verkauft… ich bin vielleicht das Gegenteil eines Geschäftsmannes… auf diesem Wege werden Sie Ihren Wunsch nicht erfüllt sehen.“

„Sie wollen es also nicht tun?“

„Nicht für Geld.“

Es wurde ganz still für eine Sekunde zwischen uns. So still, dass ich sie zum ersten Mal atmen hörte. „Was können Sie denn sonst wünschen?“

Jetzt hielt ich mich nicht mehr.

„Ich wünsche zuerst, dass Sie… dass Sie zu mir nicht wie zu einem Krämer[184] reden, sondern wie zu einem Menschen. Dass Sie, wenn Sie Hilfe brauchen, nicht… nicht gleich mit Ihrem schändlichen Geld kommen… sondern bitten… mich, den Menschen, bitten, Ihnen, dem Menschen, zu helfen… Ich bin nicht nur Arzt, ich habe nicht nur Sprechstunden… ich habe auch andere Stunden… vielleicht sind Sie in eine solche Stunde gekommen…“

Sie schweigt einen Augenblick. Dann krümmt sich ihr Mund ganz leicht, zittert und sagt rasch: „Also wenn ich Sie bitten würde… dann würden Sie es tun?“

„Sie wollen schon wieder ein Geschäft machen – Sie wollen nur bitten, wenn ich erst verspreche. Erst müssen Sie mich bitten – dann werde ich ihnen antworten.“

Sie wirft den Kopf hoch wie ein trotziges Pferd. Zornig sieht sie mich an.

„Nein – ich werde Sie nicht bitten. Lieber zugrunde gehen[185]!“

Da packte mich der Zorn, der rote, sinnlose Zorn.

„Dann werde ich fordern, wenn Sie nicht bitten wollen. Ich glaube, ich muss nicht erst deutlich sein – Sie wissen, was ich von Ihnen begehre. Dann – dann werde ich ihnen helfen.“

Einen Augenblick starrte sie mich an. Dann – oh, ich kann, ich kann nicht sagen, wie entsetzlich das war – dann spannten[186] sich ihre Züge, und dann… dann lachte sie mit einem Male…Es war wie eine Explosion, so plötzlich, so aufspringend, so mächtig losgesprengt von einer ungeheuren Kraft, dieses Lachen der Verächtlichkeit, dass ich… ja, dass ich hätte zu Boden sinken können und ihre Füße küssen. Eine Sekunde dauerte es nur… es war wie ein Blitz, und ich hatte das Feuer im ganzen Körper… da wandte sie sich schon und ging hastig auf die Tür zu. Unwillkürlich wollte ich ihr nach… mich entschuldigen… sie anflehen… meine Kraft war ja ganz zerbrochen… da kehrte sie sich noch einmal um und sagte… nein, sie befahl: „Unterstehen[187] Sie sich nicht, mir zu folgen oder nachzuspüren… Sie würden es bereuen.“ Und schon krachte hinter ihr die Türe zu.“

Wieder ein Zögern. Wieder ein Schweigen… Wieder nur dies Rauschen, als ob das Mondlicht strömte. Und dann endlich wieder die Stimme. „Die Tür schlug zu… aber ich stand unbeweglich an der Stelle… ich war gleichsam hypnotisiert von dem Befehl… ich hörte sie die Treppe hinabsteigen, die Haustür zumachen… ich hörte alles, und mein ganzer Wille drängte ihr nach… sie… ich weiß nicht was… sie zurückzurufen oder zu schlagen oder zu erdrosseln[188]… aber ihr nach… ihr nach… Und doch konnte ich nicht. Meine Glieder[189] waren gleichsam gelähmt[190] wie von einem elektrischen Schlag… ich war eben getroffen von dem herrischen Blitz dieses Blickes… Ich weiß, das ist nicht zu erklären, nicht zu erzählen… aber ich stand und stand… ich brauchte Minuten, vielleicht fünf, vielleicht zehn Minuten, ehe ich einen Fuß wegreißen konnte von der Erde… Aber kaum dass ich einen Fuß gerührt, war ich schon heiß, war ich schon rasch……Sie konnte ja nur die Straße hinabgegangen sein zur Zivilstation… ich stürzte in den Schuppen, das Rad zu holen, sehe, dass ich den Schlüssel vergessen habe, reiße den Verschlag auf, dass der Bambus splittert und kracht[191]… und schon schwinge ich mich auf das Rad und sause ihr nach… ich muss sie… ich muss sie erreichen, ehe sie zu ihrem Automobil gelangt… ich muss sie sprechen… Die Straße staubt an mir vorbei… jetzt merke ich erst, wie lange ich oben gestanden haben musste… da… auf der Kurve im Wald knapp vor der Station sehe ich sie, wie sie hastig mit steifem geradem Schritt hineilt, begleitet von dem Boy… Aber auch sie muss mich gesehen haben, denn sie spricht jetzt mit dem Boy, der zurückbleibt, und geht allein weiter.

… Was will sie tun? Warum will sie allein sein?… Will sie mit mir sprechen, ohne dass er es hört?… Blindwütig trete ich in die Pedale hinein… Da springt mir plötzlich quer von der Seite etwas über den Weg… der Boy… ich kann gerade noch das Rad zur Seite reißen und krache hin… Ich stehe fluchend auf… unwillkürlich hebe ich die Faust, [192]um dem Tölpel[193] eines hinzuknallen, aber er springt zur Seite… Ich rüttle mein Fahrrad hoch, um wieder aufzusteigen… Aber da springt der Halunke[194] vor, fasst das Rad und sagt in seinem erbärmlichen Englisch: „You remain here[195].“

Sie haben nicht in den Tropen gelebt… Sie wissen nicht, was das für eine Frechheit ist, wenn ein solcher gelber Halunke einem weißen „Herrn“ das Rad fasst und ihm, dem „Herrn“ befiehlt, dazubleiben. Statt aller Antwort schlage ich ihm die Faust ins Gesicht… er taumelt[196], aber er hält das Rad fest… seine Augen, seine engen, feigen Augen sind weit aufgerissen in sklavischer Angst… aber er hält die Stange, hält sie teuflisch fest… „You remain here“, stammelt er noch einmal. Zum Glück hatte ich keinen Revolver bei mir. Ich hätte ihn sonst niedergeknallt. „Weg, Kanaille!“ sage ich nur. Er starrt mich geduckt[197] an, lässt aber die Stange nicht los. Ich schlage ihm noch einmal auf den Schädel, er lässt noch immer nicht. Da fasst mich die Wut… ich sehe, dass sie schon fort, vielleicht schon entkommen ist… und versetze ihm einen Boxerschlag unters Kinn, dass er runterfällt. Jetzt habe ich wieder mein Rad… aber wie ich aufspringe, stockt[198] der Lauf… bei dem Zerren hat sich die Speiche[199] verbogen… Ich versuche mit fiebernden Händen sie geradezudrehen… Es geht nicht… so schmeiße ich das Rad quer auf den Weg neben den Halunken hin, der blutend aufsteht und zur Seite weicht… Und dann – nein, Sie können nicht fühlen, wie lächerlich das dort vor allen Menschen ist, wenn ein Europäer… nun, ich wusste nicht mehr, was ich tat… ich hatte nur den einen Gedanken: ihr nach, sie erreichen… und so lief ich, lief wie ein Rasender[200] die Landstraße entlang vorbei an den Hütten, wo das gelbe Gesindel staunend sich vordrängte, einen weißen Mann, den Doktor, laufen zu sehen.

Schweißtriefend kam ich in der Station an… Meine erste Frage: Wo ist das Auto?… Eben weggefahren… Verwundert sehen mich die Leute an: als Rasender muss ich ihnen erscheinen, wie ich da nass und schmierig[201] ankam, die Frage voranschreiend, ehe ich noch stand… Unten an der Straße sehe ich weiß den Qualm des Autos wirbeln… es ist ihr gelungen… gelungen, wie alles ihrer harten, grausam harten Berechnung gelingen muss.

Aber die Flucht hilft ihr nichts… In den Tropen gibt es kein Geheimnis unter den Europäern… einer kennt den andern, alles wird zum Ereignis… Nicht umsonst ist ihr Chauffeur eine Stunde im Bungalow der Regierung gestanden… in einigen Minuten weiß ich alles… Weiß, wer sie ist… dass sie unten in – nun in der Regierungsstadt wohnt, acht Eisenbahnstunden von hier… dass sie – nun sagen wir, die Frau eines Großkaufmannes ist, rasend reich, vornehm, eine Engländerin… ich weiß, dass ihr Mann jetzt fünf Monate in Amerika war und nächster Tage eintreffen soll, um sie mit nach Europa zu nehmen… Sie aber – und wie Gift brennt sich mir der Gedanke in die Adern hinein – sie kann höchstens zwei oder drei Monate in anderen Umständen sein…“

„Bisher konnte ich Ihnen noch alles begreiflich machen… vielleicht nur deshalb, weil ich bis zu diesem Augenblicke mich noch selbst verstand… mir als Arzt immer die Diagnose meines Zustandes selbst stellte. Aber von da an begann es wie ein Fieber in mir… ich verlor die Kontrolle über mich… das heißt, ich wusste genau, wie sinnlos alles war, was ich tat; aber ich hatte keine Macht mehr über mich… ich verstand mich selbst nicht mehr… ich lief nur in der Besessenheit meines Zieles vorwärts… Übrigens, warten Sie… vielleicht kann ich es Ihnen doch begreiflich machen… Wissen Sie, was Amok ist?“

„Amok?… ich glaube mich zu erinnern… eine Art Trunkenheit bei den Malaien…“

„Es ist mehr als Trunkenheit… es ist Tollheit[202], eine Art menschlicher Hundswut… ein Anfall mörderischer, sinnloser Monomanie, der sich mit keiner anderen alkoholischen Vergiftung vergleichen lässt… ich habe selbst während meines Aufenthaltes einige Falle studiert – für andere ist man ja immer sehr klug und sehr sachlich – ohne aber je das furchtbare Geheimnis ihres Ursprungs freilegen zu können… Irgendwie hängt es mit dem Klima zusammen, mit dieser schwülen[203] Atmosphäre, die auf die Nerven wie ein Gewitter drückt, bis sie einmal losspringen…

Also Amok… ja, Amok, das ist so: Ein Malaie, irgendein ganz einfacher Mensch, trinkt sein Gebräu[204] in sich hinein… er sitzt da, stumpf, gleichmütig… so wie ich in meinem Zimmer saß… und plötzlich springt er auf, fasst den Dolch[205] und rennt auf die Straße… rennt geradeaus, immer nur geradeaus… ohne zu wissen wohin… Was ihm in den Weg tritt, Mensch oder Tier, das stößt er nieder mit seinem Kris, und der Blutrausch macht ihn nur noch hitziger… Er rennt, rennt, rennt, sieht nicht mehr nach rechts, sieht nicht nach links, rennt nur mit seinem gellen Schrei, seinem blutigen Kris in dieses entsetzliche Geradeaus… Die Leute in den Dörfern wissen, dass keine Macht einen Amokläufer aufhalten kann… so brüllen sie warnend voraus, wenn er kommt: „Amok! Amok!“, und alles flüchtet… er aber rennt, ohne zu hören, rennt, ohne zu sehen, stößt nieder, was ihm begegnet… bis man ihn totschießt wie einen tollen Hund oder er selbst schäumend zusammenbricht…

Einmal habe ich das gesehen, vom Fenster meines Bungalows aus… es war grauenhaft… aber nur dadurch, dass ich gesehen habe, begreife ich mich selbst in jenen Tagen… denn so, genau so, mit diesem furchtbaren Blick geradeaus, ohne nach rechts oder links zusehen, mit dieser Besessenheit stürmte ich los… dieser Frau nach… Ich weiß nicht mehr, wie ich alles tat, in so rasendem Lauf, in so unsinniger Geschwindigkeit flog es vorbei… Zehn Minuten, nein, fünf, nein zwei… nachdem ich alles von dieser Frau wusste, ihren Namen, ihr Haus, ihr Schicksal, jagte ich schon auf einem rasch geborgten Rad in mein Haus zurück, warf einen Anzug in den Koffer, steckte Geld zu mir und fuhr zur Station der Eisenbahn mit meinem Wagen… fuhr, ohne mich abzumelden beim Distriktbeamten… ohne einen Vertreter zu ernennen, ließ das Haus offen stehen und liegen, wie es war… Um mich standen Diener, die Weiber staunten und fragten, ich antwortete nicht, wandte mich nicht um… fuhr zur Eisenbahn und mit dem nächsten Zug hinab in die Stadt… Eine Stunde im Ganzen, nachdem diese Frau in mein Zimmer getreten, hatte ich meine Existenz hinter mich geworfen und rannte Amok ins Leere hinein… Geradeaus rannte ich, mit dem Kopf gegen die Wand… um sechs Uhr abends war ich angekommen… um sechs Uhr zehn war ich in ihrem Haus und ließ mich melden… Es war… Sie werden es verstehen… das Sinnloseste, das Stupideste, was ich tun konnte…aber der Amokläufer rennt ja mit leeren Augen, er sieht icht, wohin er rennt… Nach einigen Minuten kam der Diener zurück… höflich und kühl… die gnädige Frau sei nicht wohl und könne nicht empfangen… Ich taumelte[206] die Türe hinaus… Eine Stunde schlich ich noch um das Haus herum, besessen von der wahnwitzigen Hoffnung, sie würde vielleicht nach mir suchen… dann nahm ich mir erst ein Zimmer im Strandhotel und zwei Flaschen Whisky auf das Zimmer… die und eine doppelte Dosis Veronal halfen mir… ich schlief endlich ein… und dieser dumpfe Schlaf war die einzige Pause in diesem Rennen zwischen Leben und Tod.“

Die Schiffsglocke klang. Zwei harte, volle Schläge. Der Mensch im Dunkeln mir gegenüber musste erschreckt aufgefahren sein, seine Rede stockte. Wieder hörte ich die Hand hinab zur Flasche fingern, wieder das leise Glucksen. Dann begann er, gleichsam beruhigt, mit einer festeren Stimme. „Die Stunden von diesem Augenblick an kann ich Ihnen kaum erzählen. Ich glaube heute, dass ich damals Fieber hatte, jedenfalls war ich in einer Art Überreiztheit, die an Tollheit grenzte – ein Amokläufer, wie ich Ihnen sagte. Aber vergessen Sie nicht, es war Dienstagnachts, als ich ankam, Samstag aber sollte – dies hatte ich inzwischen erfahren – ihr Gatte mit dem P. & O.-Dampfer von Yokohama eintreffen, es blieben also nur drei Tage, drei knappe Tage für den Entschluss und für die Hilfe. Verstehen Sie das: ich wusste, dass ich ihr sofort helfen musste, und konnte doch kein Wort zu ihr sprechen. Und gerade dieses Bedürfnis, das hetzte[207] mich weiter. Ich wusste um die Kostbarkeit jedes Augenblickes, ich wusste, dass es für sie um Leben und Tod ginge, und hatte doch keine Möglichkeit, mit einem Zeichen ihr zu nähern, denn gerade das Stürmische[208] meines Nachrennens hatte sie erschreckt. Es war… ja, warten Sie… es war, wie wenn einer einem nachrennt, um ihn zu warnen vor einem Mörder, und der andere hält ihn selbst für den Mörder, und so rennt er weiter in sein Verderben… sie sah nur den Amokläufer in mir, der sie verfolgte, um sie zu demütigen, aber ich… das war ja der entsetzliche Widersinn… ich dachte gar nicht mehr an das… ich war ja schon ganz vernichtet, ich wollte ihr nur helfen, ihr nur dienen… einen Mord hätte ich getan, ein Verbrechen, um ihr zu helfen… Aber sie, sie verstand es nicht. Als ich morgens aufwachte und gleich wieder hinlief zu ihrem Haus, stand der Boy vor der Tür, derselbe Boy, den ich ins Gesicht geschlagen, und wie er mich von ferne sah – er musste auf mich gewartet haben, – huschte er hinein in die Tür. Vielleicht tat er es nur, um mich im geheimen anzumelden… vielleicht… ah, diese Ungewissheit, wie peinigt[209] sie mich jetzt… vielleicht war schon alles bereit, mich zu empfangen… aber da, wie ich ihn sah, mich erinnerte an meine Schmach, da war ich es wieder, der nicht wagte, noch einmal den Besuch zu wiederholen… Die Knie zitterten mir. Knapp vor der Schwelle drehte ich mich um und ging wieder fort… ging fort, während sie vielleicht in ähnlicher Qual auf mich wartete.

Ich wusste jetzt nicht mehr, was tun in der fremden Stadt, die an meinen Fersen wie Feuer glühte… Plötzlich fiel mir etwas ein, schon rief ich einen Wagen und fuhr zum Vizeresidenten, zu demselben, dem ich damals in meiner Station geholfen, und ließ mich melden… Irgendetwas muss schon in meinem äußern Wesen befremdend gewesen sein, denn er sah mich mit einem gleichsam erschreckten Blick an, und seine Höflichkeit hatte etwas Beunruhigtes… vielleicht erkannte er schon den Amokläufer in mir… Ich sagte ihm kurz entschlossen, ich erbäte meine Versetzung in die Stadt, ich könne auf meinem Posten nicht mehr länger existieren… ich müsse sofort übersiedeln… Er sah mich… ich kann Ihnen nicht sagen, wie er mich ansah… so wie eben ein Arzt einen Kranken ansieht… „Ein Nervenzusammenbruch, lieber Doktor“, sagte er dann, „ich verstehe das nur zu gut. Nun, es wird sich schon richten lassen; aber warten Sie… sagen wir vier Wochen… ich muss erst einen Ersatz finden.“ „Ich kann nicht warten, nicht einen Tag“, antwortete ich. Wieder kam dieser merkwürdige Blick.

„Es muss gehen, Doktor“, sagte er ernst, „wir dürfen die Station nicht ohne Arzt lassen. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich noch heute alles einleite.“ Ich blieb stehen, mit verbissenen Zähnen: zum ersten Mal spürte ich deutlich, dass ich ein verkaufter Mensch sei. Schon ballte sich alles zu einem Trotz[210] zusammen, aber er, der Geschmeidige, kam mir zuvor: „Sie sind menschenentwöhnt, Doktor, und das wird schließlich eine Krankheit. Wir haben uns alle gewundert, dass Sie nie herkamen, nie Urlaub nahmen. Sie brauchen mehr Anregung[211]. Kommen Sie doch wenigstens diesen Abend, wir haben heute Empfang bei der Regierung, Sie finden die ganze Kolonie, und manche möchten Sie längst kennen lernen, haben oft nach Ihnen gefragt und Sie hierher gewünscht.“ Das letzte Wort riss mich auf. Nach mir gefragt? Sollte sie es gewesen sein? Ich war plötzlich ein anderer: sofort dankte ich ihm höflichst für seine Einladung und sicherte mein Kommen pünktlich zu. Und ich war auch pünktlich, viel zu pünktlich. Muss ich Ihnen erst sagen, dass ich, von meiner Ungeduld gejagt, der erste in dem großen Saale des Regierungsgebäudes war, schweigend umgeben von den gelben Dienern. Eine Viertelstunde war ich der einzige Europäer inmitten all der geräuschlosen Vorbereitungen und so allein mit mir, dass ich das Ticken der Uhr in meiner Westentasche hörte. Dann kamen endlich ein paar Regierungsbeamte mit ihren Familien, schließlich auch der Gouverneur, der mich in ein längeres Gespräch zog, in dem ich befliss und, wie ich glaube, geschickt antwortete, bis… bis ich plötzlich, von einer geheimnisvollen Nervosität befallen, alle Geschmeidigkeit[212] verlor und zu stammeln[213] begann. Obzwar mit dem Rücken gegen die Saaltür gelehnt, spürte ich mit einem Male, dass sie eingetreten, dass sie anwesend sein müsste. Glücklicherweise endete der Gouverneur bald das Gespräch – ich glaubte, ich hätte mich sonst plötzlich brüsk[214] umgewandt, so stark war dieses geheimnisvolle Ziehen in meinen Nerven.

Und wirklich, kaum dass ich mich umwandte, sah ich sie schon ganz genau an jener Stelle, wo sie unbewusst mein Gefühl geahnt. Sie stand in einem gelben Ballkleid, plaudernd inmitten einer Gruppe. Ich trat näher – sie konnte mich nicht sehen oder wollte mich nicht sehen – und blickte in dieses Lächeln, das gefällig und höflich um die schmalen Lippen zitterte. Und dieses Lächeln berauschte mich von neuem, weil es… nun weil ich wusste, dass es Lüge war, Kunst oder Technik, Meisterschaft der Verstellung. Mittwoch ist heute, fuhr mir durch den Kopf, Samstag kommt das Schiff mit dem Gatten… wie kann sie so lächeln, so… so sicher, so sorglos lächeln und den Fächer lässig in der Hand spielen lassen, statt ihn zu zerkrampfen[215] in Angst?

Ich… ich, der Fremde… ich zitterte seit zwei Tagen vor jener Stunde… ich, der Fremde, lebte ihre Angst und sie ging auf den Ball und lächelte, lächelte, lächelte…Rückwärts setzte die Musik ein. Der Tanz begann. Ein älterer Offizier hatte sie aufgefordert, sie ließ mit einer Entschuldigung den plaudernden Kreis und schritt an seinem Arm gegen den andern Saal zu, an mir vorbei. Wie sie mich erblickte, spannte sich plötzlich ihr Gesicht gewaltsam zusammen – aber nur eine Sekunde lang, dann nickte sie mir mit einem höflichen Erkennen (ehe ich mich noch zu grüßen oder nichtgrüßen entschlossen hatte) wie einem zufälligen Bekannten zu: „Guten Abend, Doktor“ und war schon vorbei. Niemand hätte ahnen können, was in diesem graugrünen Blick verborgen war, und ich, ich selbst wusste es nicht. Warum grüßte sie… warum erkannte sie mich nun mit einmal an?… War das Abwehr[216], war es Annäherung, war es nur die Verlegenheit der Überraschung? Ich kann Ihnen nicht schildern, in welcher Erregtheit[217] ich zurückblieb, alles war in mir zusammengepresst, und wie ich sie so sah, lässig walzend am Arme des Offiziers, auf der Stirne den kühlen Glanz der Sorglosigkeit, indes ich doch wüsste, dass sie… dass sie so wie ich nur daran… daran dachte… dass wir zwei hier allein ein furchtbares Geheimnis gemeinsam hatten… und sie walzte… in diesen Sekunden wurde meine Angst und meine Bewunderung noch mehr Leidenschaft als jemals. Ich weiß nicht, ob mich jemand beobachtet hat, aber gewiss verriet ich mich in meinem Verhalten noch viel mehr, als sie sich verbarg – ich konnte eben nicht in eine andere Richtung schauen, ich musste sie ansehen. Und sie musste diesen starren Blick unangenehm empfunden haben. Als sie am Arme ihres Tänzers zurückschritt, sah sie mich im Blitzlicht einer Sekunde an, scharf befehlend: wieder spannte sich jene kleine Falte des hochmütigen Zornes, die ich schon von damals kannte, böse über ihrer Stirn.

Aber… aber… ich sagte es Ihnen ja… ich lief Amok, ich sah nicht nach rechts und nicht nach links. Ich verstand sie sofort – dieser Blick hieß: sei nicht auffällig[218]! Ich wusste, dass sie… wie soll ich es sagen?… dass sie Diskretion des Benehmens hier im offenen Saal von mir wollte… ich verstand, dass, wenn ich jetzt heimginge, ich morgen gewiss sein könne, von ihr empfangen zu werden… aber es war zu stark in mir, ich musste sie sprechen. Und so schwankte ich hin zu der Gruppe, in der sie plaudernd stand, schob mich – obwohl ich nur einige der Anwesenden kannte – ganz an den lockeren Kreis heran nur aus Begier, sie sprechen zu hören. Ich stand, durstig nach einem Wort, das sie zu mir sprechen sollte, nach einem Zeichen des Einverständnisses, stand und stand starren Blickes inmitten des Geplauders wie ein Block. Unbedingt musste es schon auffällig geworden sein, unbedingt, denn keiner richtete ein Wort an mich, und sie musste leiden unter meiner lächerlichen Gegenwart[219].

Wie lange ich so gestanden hätte, ich weiß es nicht… eine Ewigkeit vielleicht… ich konnte ja nicht fort aus dieser Bezauberung des Willens. Sie ertrug es nicht länger… plötzlich wandte sie sich mit der prachtvollen[220] Leichtigkeit ihres Wesens gegen die Herren und sagte: „Ich bin ein wenig müde… ich will heute einmal früher zu Bett gehen… Gute Nacht!“… und schon streifte sie mit einem gesellschaftlich fremden Kopfnicken an mir vorbei…

Eine Sekunde lang dauerte es, bevor ich begriff, dass sie fortging… dass ich sie nicht mehr sehen, nicht mehr sprechen könnte diesen Abend, diesen letzten Abend der Rettung… einen Augenblick lang also stand ich noch starr, bis ich begriff… dann… Aber warten Sie… warten Sie… Sie werden sonst das Sinnlose, das Stupide meiner Tat nicht verstehen… ich muss Ihnen erst den ganzen Raum schildern… Es war der große Saal des Regierungsgebäudes, ganz von Lichtern erhellt und fast leer, der ungeheure Saal… die Paare waren zum Tanz gegangen, die Herren zum Spiel… nur an den Ecken plauderten einige Gruppen… der Saal war also leer, jede Bewegung auffällig und im grellen[221] Licht sichtbar… und diesen großen weiten Saal schritt sie langsam und leicht mit ihren hohen Schultern durch… mit dieser herrlichen erfrorenen hoheitlichen Ruhe, die mich an ihr so entzückte… Ich… ich war zurückgeblieben, ich sagte es Ihnen ja, ich war gleichsam gelähmt[222], bevor ich es begriff, dass sie fortging… und da, als ich es begriff, war sie schon am andern Ende des Saales knapp vor der Türe… Da… oh, ich schäme mich jetzt noch, es zu denken… da packte es mich plötzlich an und ich lief – hören Sie: ich lief… ich ging nicht, ich lief mit polternden[223] Schuhen, die laut widerhallten, quer durch den Saal ihr nach… Ich hörte meine Schritte, ich sah alle Blicke erstaunt auf mich gerichtet… ich hätte vergehen können vor Scham… noch während ich lief, war mir schon der Wahnsinn bewusst… aber ich konnte… ich konnte nicht mehr zurück… Bei der Tür holte ich sie ein… Sie wandte sich um… ihre Augen stießen wie ein grauer Stahl in mich hinein, ihre Nasenflügel zitterten vor Zorn… ich wollte eben zu stammeln anfangen… da… da… lachte sie plötzlich hellauf… ein helles, unbesorgtes, herzliches Lachen, und sagte laut… so laut, dass es alle hören konnten… „Ach, Doktor, jetzt fällt Ihnen erst das Rezept für meinen Buben ein… ja, die Herren der Wissenschaft…“ Ein paar, die in der Nähe standen, lachten gutmütig mit… ich begriff, ich taumelte unter der Meisterschaft, mit der sie die Situation gerettet hatte… griff in die Brieftasche und riss ein leeres Blatt vom Block, das sie lässig nahm, ehe sie… noch einmal mit einem kalten, dankenden Lächeln… ging… Mir war leicht in der ersten Sekunde… ich sah, dass mein Irrsinn durch ihre Meisterschaft gutgemacht, die Situation gewonnen… aber ich wusste auch sofort, dass alles für mich verloren sei, dass diese Frau mich um meiner hitzigen Narrheit[224] hasste… hasste mehr als den Tod… dass ich nun hundertmal und hundertmal vor ihre Tür kommen könnte und sie mich wegweisen würde wie einen Hund.

Ich taumelte durch den Saal… ich merkte, dass die Leute auf mich blickten… ich muss irgendwie sonderbar ausgesehen haben… Ich ging zum Büfett, trank zwei, drei, vier Gläser Kognak hintereinander… das rettete mich vor dem Umsinken… meine Nerven konnten schon nicht mehr, sie waren wie durchgerissen… Dann schlich ich bei einer Nebentür hinaus, heimlich wie ein Verbrecher… ich ging… genau weiß ich nicht mehr zu sagen, wohin ich ging… in ein paar Kneipen und soff mich an… soff mich an wie einer, der sich alles Wache wegsaufen will… aber… es ward mir nicht dumpf in den Sinnen… das Lachen stak in mir, schrill und böse… das Lachen, dieses verfluchte Lachen konnte ich nicht betäuben… Ich irrte dann noch am Hafen herum… meinen Revolver hatte ich zu Hause gelassen, sonst hätte ich mich erschossen. Ich dachte an nichts anderes, und mit diesem Gedanken ging ich auch heim… nur mit diesem Gedanken an das Schubfach links im Kasten, wo mein Revolver lag… Das ich mich dann nicht erschoss… ich schwöre Ihnen, das war nicht Feigheit… es wäre für mich eine Erlösung gewesen, den schon gespannten kalten Hahn abzudrücken… aber wie soll ich es Ihnen erklären… ich fühlte noch eine Pflicht in mir… ja, jene Pflicht, zu helfen, jene verfluchte Pflicht… mich machte der Gedanke wahnsinnig, dass sie mich noch brauchen könnte, dass sie mich brauchte… es war ja schon Donnerstag morgens, als ich heimkam, und Samstag… ich sagte es Ihnen ja… Samstag kam das Schiff, und dass diese Frau, diese hochmütige, stolze Frau die Schande[225] vor ihrem Gatten, vor der Welt nicht überleben würde, das wusste ich… Ah, wie mich solche Gedanken gemartert[226] haben an die sinnlos kostbare Zeit, an meine irrwitzige[227] Übereilung, die jede rechtzeitige Hilfe vereitelt hatte… stundenlang, ja stundenlang, ich schwöre es Ihnen, bin ich im Zimmer niedergegangen, auf und ab, und habe mir das Hirn zermartert, wie ich alles gutmachen, wie ich ihr helfen könnte….. es war schon Tag, es war schon Vormittag… Und plötzlich schmiss es mich hin zu dem Tisch… ich riss ein Bündel Briefblätter heraus und begann ihr zu schreiben… alles zu schreiben… einen hündisch Brief, in dem ich sie um Vergebung bat, in dem ich mich einen Wahnsinnigen, einen Verbrecher nannte… in dem ich sie beschwor, sich mir anzuvertrauen… Ich schwor, in der nächsten Stunde zu verschwinden, aus der Stadt, aus der Kolonie, wenn sie wollte: aus der Welt… nur verzeihen sollte sie mir und mir vertrauen, sich helfen zu lassen in der letzten, der allerletzten Stunde… Zwanzig Seiten fieberte ich so hinunter… es muss ein toller, ein unbeschreiblicher Brief sein, denn als ich aufstand vom Tisch, war ich in Schweiß gebadet[228]… das Zimmer schwankte, ich musste ein Glas Wasser trinken… Dann erst versuchte ich den Brief noch einmal zu überlesen, aber mir graute nach den ersten Worten… zitternd faltete ich ihn zusammen, fasste schon ein Kuvert… Da plötzlich fuhr mich durch. Mit einem Male wusste ich das wahre, das entscheidende Wort. Und ich riss noch einmal die Feder zwischen die Finger und schrieb auf das letzte Blatt: „Ich warte hier im Strandhotel auf ein Wort der Verzeihung. Wenn ich bis sieben Uhr keine Antwort habe, erschieße ich mich.“

Dann nahm ich den Brief, schellte einem Boy und hieß ihn das Schreiben sofort überbringen. Endlich war alles gesagt – alles!“

Etwas klirrte und kollerte[229] neben uns. Mit einer heftigen Bewegung hatte er die Whiskyflasche umgestoßen; ich hörte, wie seine Hand ihr suchend am Boden nachtastete und sie dann mit einem plötzlichen Schwung fasste: in weitem Bogen warf er die geleerte Flasche über Bord. Einige Minuten schwieg die Stimme, dann fieberte er wieder fort, noch erregter und hastiger als zuvor.

„Ich bin kein gläubiger Christ mehr… für mich gibt es keinen Himmel und keine Hölle… und wenn es eine gibt, so fürchte ich sie nicht, denn sie kann nicht ärger sein als jene Stunden, die ich von Vormittag bis abends erlebte… Denken Sie sich ein kleines Zimmer, nur Tisch und Stuhl und Bett… Und auf diesem Tisch nichts als eine Uhr und einen Revolver und vor dem Tisch einen Menschen… einen Menschen, der nichts tut als immer auf diesen Tisch, auf den Sekundenzeiger der Uhr starren einen Menschen, der nicht isst und nicht trinkt und nicht raucht und sich nicht regt… der immer nur… hören Sie: immer nur, drei Stunden lang… auf den weißen Kreis des Zifferblattes starrt und auf den Zeiger, der tickend den Kreis umläuft… So… so… habe ich diesen Tag verbracht, nur gewartet… aber gewartet wie… wie eben ein Amokläufer etwas tut, sinnlos, tierisch.

Nun… ich werde Ihnen diese Stunden nicht schildern das lässt sich nicht schildern… ich verstehe ja selbst nicht mehr, wie man das erleben kann ohne… ohne wahnsinnig zu werden… Also… um drei Uhr zweiundzwanzig Minuten… ich weiß es genau, ich starrte ja auf die Uhr… klopfte es plötzlich an die Tür… Ich springe auf mit einem Ruck durch das ganze Zimmer zur Tür, reiße sie auf… ein ängstlicher kleiner Chinesenjunge steht draußen, einen zusammengefalteten Zettel in der Hand.

Ich reiße den Zettel auf, will ihn lesen… und kann ihn nicht lesen… Mir schwankt es rot vor den Augen… denken Sie die Qual, ich habe endlich, endlich das Wort von ihr!..Ich tauche den Kopf ins Wasser… nun wird mir klarer… Nochmals nehme ich den Zettel und lese: „Zu spät! Aber warten Sie zu Hause. Vielleicht rufe ich Sie noch.“

Keine Unterschrift auf dem zerknüllten Papier, das von irgendeinem alten Prospekt abgefetzt war… ich weiß nicht, warum mich das Blatt so erschütterte[230]… Irgendetwas von Grauen, von Geheimnis haftete ihm an, es war wie auf einer Flucht geschrieben… und doch… und doch, ich war glücklich: sie hatte mir geschrieben, ich musste noch nicht sterben, ich durfte ihr helfen… vielleicht… ich durfte… Hundertmal, tausendmal habe ich den kleinen Zettel gelesen, ihn geküsst… ihn durchforscht nach irgendeinem vergessenen, übersehenen Wort… Plötzlich schreckte ich auf… Hatte es nicht geklopft?… Ich hielt den Atem an… eine Minute, zwei Minuten reglose Stille… Und dann wieder ganz leise, so wie eine Maus knabbert, ein leises aber heftiges Pochen[231]… Ich sprang auf, noch ganz taumelig, riss die Tür auf – draußen stand der Boy, ihr Boy, derselbe, dem ich den Mund damals mit der Faust zerschlagen… sein braunes Gesicht war aschfahl[232], sein verwirrter Blick sagte Unglück… Sofort spürte ich Grauen…

„Was… was ist geschehen?“ konnte ich noch stammeln. „Come quickly“, sagte er… sonst nichts… sofort raste ich die Treppe herunter, er mir nach…

Ein kleiner Wagen, stand bereit, wir stiegen ein… „Was ist geschehen?“ fragte ich ihn… Er sah mich zitternd an und schwieg mit verbissenen Lippen… Ich fragte nochmals – er schwieg und schwieg. – Ich hätte ihm am liebsten wieder ins Gesicht geschlagen mit der Faust, aber… gerade seine hündische Treue[233] zu ihr rührte mich… so fragte ich nicht mehr… Endlich kamen wir in eine enge Gasse, ganz abseits lag sie… vor einem niederen Haus hielt er an… Hastig klopfte der Boy an… Hinter dem Türspalt zischelte[234] eine Stimme, fragte und fragte… Ich konnte es nicht mehr ertragen, sprang vom Sitz, stieß die angelehnte Tür auf…ein altes chinesisches Weib flüchtete mit einem kleinen Schrei zurück… hinter mir kam der Boy, führte mich durch den Gang… klinkte eine andere Tür auf eine andere Türe in einen dunklen Raum, der übel roch von Branntwein und gestocktem Blut… Irgendetwas stöhnte darin… ich tappte hin…“

Wieder stockte die Stimme. Und was dann ausbrach, war mehr ein Schluchzen[235] als ein Sprechen.

„Ich… ich tappte hin… und dort… dort lag auf einer schmutzigen Matte… verkrümmt vor Schmerz…ein stöhnendes Stück Mensch… dort lag sie…Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen im Dunkel… Meine Augen waren noch nicht gewöhnt… so tastete ich nur hin… ihre Hand… heiß… brennend heiß… Fieber, hohes Fieber… und ich schauerte… ich wusste sofort alles… sie war hierher geflüchtet vor mir… hatte sich verstümmeln[236] lassen von irgendeiner schmutzigen Chinesin, nur weil sie hier mehr Schweigsamkeit[237] erhoffte… hatte sich morden lassen von irgendeiner teuflischen Hexe, lieber als mir zu vertrauen… nur weil ich Wahnsinniger… weil ich ihr nicht gleich geholfen hatte… weil sie den Tod weniger fürchtete als mich…

Ich schrie nach Licht. Der Boy sprang: die abscheuliche Chinesin brachte mit zitternden Händen eine Petroleumlampe[238]… Sie stellten die Lampe auf den Tisch… der Lichtschein fiel gelb und hell über den gemarterten Leib… Und plötzlich… plötzlich war alles weg von mir, alle Dumpfheit, aller Zorn, all diese unreine Jauche[239] von aufgehäufter Leidenschaft… ich war nur mehr Arzt, helfender, spürender, wissender Mensch… ich hatte mich vergessen… kämpfte mit wachen, klaren Sinnen gegen das Entsetzliche… Ich fühlte den nackten Leib, den ich in meinen Träumen begehrt, nur mehr als… wie soll ich es sagen… als Materie, als Organismus… ich spürte nicht mehr sie, sondern nur das Leben, das sich gegen den Tod wehrte, den Menschen, der sich krümmte in mörderischer Qual… Ihr Blut, ihr heißes, heiliges Blut überströmte meine Hände, aber ich spürte es nicht in Lust und nicht in Grauen… ich war nur Arzt… ich sah nur das Leiden… und sah…



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