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Читать: Немецкий с любовью. Новеллы / Novellen - Стефан Цвейг на бесплатной онлайн библиотеке Э-Лит


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Und sah sofort, dass alles verloren war, wenn nicht ein Wunder geschehe… sie war verletzt und halb verblutet unter der verbrecherisch ungeschickten[240] Hand… und ich hatte nichts, um das Blut zu stillen in dieser stinkenden Höhle, nicht einmal reines Wasser… alles, was ich anrührte, starrte vor Schmutz… „Wir müssen sofort ins Spital“, sagte ich. Aber kaum dass ich gesagt, bäumte sich krämpfig der gemarterte Leib auf. „Nein… nein… lieber sterben… niemand es erfahren… niemand es erfahren… nach Hause… nach Hause…“ Ich verstand… nur mehr um das Geheimnis, um ihre Ehre rang sie… nicht um ihr Leben… Und – ich gehorchte[241]… Der Boy brachte eine Sänfte… wir betteten sie hinein… und so… wie eine Leiche schon, matt und fiebernd… trugen wir sie durch die Nacht nach Hause… die fragende, erschreckte Dienerschaft abwehrend… wie Diebe trugen wir sie hinein in ihr Zimmer und sperrten die Türen… Und dann dann begann der Kampf, der lange Kampf gegen den Tod…“

Plötzlich krampfte sich eine Hand in meinen Arm, dass ich fast aufschrie vor Schreck und Schmerz. Im Dunkeln war mir das Gesicht mit einem mal fratzenhaft nah. Und jetzt sprach er nicht mehr – er schrie, geschüttelt von einem heulenden Zorn: „Wissen Sie denn, Sie fremder Mensch, der Sie hier lässig auf einem Deckstuhl sitzen, ein Spazierfahrer durch die Welt, wissen Sie, wie das ist, wenn ein Mensch stirbt? Sind Sie schon einmal dabei gewesen, haben Sie es gesehen, wie der Leib sich aufkrümmt[242], die blauen Nägel ins Leere krallen[243], wie die Kehle[244] röchelt, jedes Glied sich wehrt[245], jeder Finger sich stemmt[246] gegen das Entsetzliche, und wie das Auge aufspringt in einem Grauen, für das es keine Worte gibt? Haben Sie das schon einmal erlebt, Sie Weltfahrer, Sie, der Sie vom Helfen reden als von einer Pflicht? Ich habe es oft gesehen als Arzt, habe es gesehen als… als klinischen Fall, als Tatsache… habe es sozusagen studiert – aber erlebt habe ich es nur einmal, miterlebt, mitgestorben bin ich nur damals in jener Nacht… in jener entsetzlichen Nacht, wo ich saß und mir das Hirn zerpreßte, um etwas zu wissen, etwas zu finden, zu erfinden gegen das Blut, das rann und rann und rann, gegen das Fieber, das sie vor meinen Augen verbrannte… gegen den Tod, der immer näher kam und den ich nicht wegdrängen konnte vom Bett.

Verstehen Sie, was das heißt, Arzt zu sein, alles wissen gegen alle Krankheiten – die Pflicht haben, zu helfen, wie Sie so weise sagen – und doch ohnmächtig bei einer Sterbenden zu sitzen, wissend und doch ohne Macht… nur dies eine, dies Entsetzliche wissend, dass man nicht helfen kann, ob man sich auch jede Ader[247] aus seinem Körper aufreißen möchte… einen geliebten Körper zu sehen, wie er verblutet, gemartert von Schmerzen, einen Puls zu fühlen, der fliegt und zugleich verlischt… Arzt zu sein und nichts zu wissen, nichts, nichts, nichts… nur die Fäuste ballen gegen einen erbärmlichen Gott, von dem man weiß, dass es ihn nicht gibt… Verstehen Sie das?

Verstehen Sie das?… Ich… ich verstehe nur eines nicht, wie… wie man es macht, dass man nicht mitstirbt in solchen Sekunden… dass man dann noch am nächsten Morgen von einem Schlaf aufsteht und sich die Zähne putzt und eine Krawatte umbindet… dass man noch leben kann, wenn man das miterlebte, was ich fühlte, wie dieser Atem, dieser erste Mensch, um den ich rang und kämpfte, den ich halten wollte mit allen Kräften meiner Seele… wie der wegglitt unter mir… irgendwohin, immer rascher wegglitt, Minute um Minute, und ich nichts wusste in meinem fieberndem Gehirn, um diesen, diesen einen Menschen festzuhalten… Und dazu, um teuflisch noch meine Qual zu verdoppeln, dazu noch dies… Während ich an ihrem Bett saß – ich hatte ihr Morphium eingegeben, um die Schmerzen zu lindern, und sah sie liegen, mit heißen Wangen, heiß und fahl – ja… während ich so saß, spürte ich vom Rücken her immer zwei Augen auf mich gerichtet mit einem fürchterlichen Ausdruck der Spannung… Der Boy saß dort auf den Boden gekauert und murmelte leise irgendwelche Gebete… Wenn mein Blick den seinen traf, so… nein, ich kann es nicht schildern… so kam etwas so Flehendes, so… so Dankbares in seinen hündischen Blick, und gleichzeitig hob er die Hände zu mir, als wollte er mich beschwören, sie zu retten… verstehen Sie: zu mir, zu mir hob er die Hände wie zu einem Gott… zu mir… dem ohnmächtigen Schwächling, der wusste, dass alles verloren… dass ich hier so unnötig sei wie eine Ameise[248], die am Boden raschelt… Ah, dieser Blick, wie er mich quälte, diese fanatische, diese tierische Hoffnung auf meine Kunst… ich hätte ihn anschreien können und mit dem Fuß treten, so weh tat er mir… und doch, ich spürte, wie wir beide zusammenhingen durch unsere Liebe zu ihr… durch das Geheimnis… Ein lauerndes Tier, ein dumpfes Knäuel, saß er zusammengeballt knapp hinter mir… kaum dass ich etwas verlangte, sprang er auf mit seinen nackten lautlosen Sohlen[249] und reichte es zitternd… erwartungsvoll her, als sei das die Hilfe… die Rettung…

Ich weiß, er hätte sich die Adern aufgeschnitten, um ihr zu helfen… so war diese Frau, solche Macht hatte sie über Menschen… und ich… ich hatte nicht die Macht, ein Quäntchen[250] Blut zu retten… O diese Nacht, diese entsetzliche Nacht, diese unendliche Nacht zwischen Leben und Tod! Gegen Morgen ward sie noch einmal wach… sie schlug die Augen auf… jetzt waren sie nicht mehr hochmütig und kalt… ein Fieber glitzerte feucht darin, als sie, gleichsam fremd, das Zimmer abtasteten… Dann sah sie mich an: sie schien nachzudenken, sich erinnern zu wollen an mein Gesicht… und plötzlich… ich sah es… erinnerte sie sich… denn irgendein Schreck… etwas Feindliches, Entsetztes spannte ihr Gesicht… sie arbeitete mit den Armen, als wollte sie flüchten… weg, weg, weg von mir… ich sah, sie dachte an das… an die Stunde von damals… Aber dann kam ein Besinnen… sie sah mich ruhiger an, atmete schwer… ich fühlte, sie wollte sprechen, etwas sagen… Wieder begannen die Hände sich zu spannen… sie wollte sich aufheben, aber sie war zu schwach… Ich beruhigte sie, beugte mich nieder… da sah sie mich an mit einem langen, gequälten Blick… ihre Lippen regten sich leise… es war nur ein letzter erlöschender Laut, wie sie sagte…

„Wird es niemand erfahren?… Niemand?“

„Niemand“, sagte ich mit aller Kraft der Überzeugung, „ich verspreche es Ihnen.“ Aber ihr Auge war noch unruhig… Mit fiebriger Lippe ganz undeutlich arbeitete sie’s heraus. „Schwören Sie mir… niemand erfahren… schwören.“

Ich hob die Finger wie zum Eid[251]. Sie sah mich an…mit einem… einem unbeschreiblichen Blick… weich war er, warm, dankbar… ja, wirklich, wirklich dankbar… Sie wollte noch etwas sprechen, aber es ward ihr zu schwer. Lang lag sie, ganz matt von der Anstrengung, mit geschlossenen Augen. Dann begann das Entsetzliche… das Entsetzliche… eine ganz schwere Stunde kämpfte sie noch: erst morgens war es zu Ende…“

Er schwieg lange. Ich merkte es nicht eher, als vom Mitteldeck die Glocke in die Stille schlug, ein, zwei, drei harte Schläge – drei Uhr. Das Mondlicht war matter geworden, aber irgendeine andere gelbe Helle zitterte schon unsicher in der Luft. Eine halbe, eine Stunde mehr, und dann war es Tag, war dies Grauen ausgelöscht im klaren Licht. Ich sah seine Züge jetzt deutlicher, da die Schatten nicht mehr so dicht und schwarz in unsern Winkel[252] fielen – er hatte die Kappe abgenommen, und unter dem blanken Schädel[253] schien sein verquältes Gesicht noch schreckhafter. Aber schon wandten sich die glitzernden Brillengläser wieder mir zu, er straffte[254] sich zusammen, und seine Stimme hatte einen scharfen Ton.

„Mit ihr war es nun zu Ende – aber nicht mit mir. Ich war allein mit der Leiche – aber allein in einem fremden Haus, allein in einer Stadt, die kein Geheimnis duldet, und ich… ich hatte das Geheimnis zu hüten… Ja, denken Sie sich das nur aus, die ganze Situation: eine Frau aus der besten Gesellschaft der Kolonie, vollkommen gesund, die noch abends zuvor auf dem Regierungsball getanzt hat, liegt plötzlich tot in ihrem Bett… ein fremder Arzt ist bei ihr, den angeblich ihr Diener gerufen… niemand im Haus hat gesehen, wann und woher er kam… man hat sie nachts auf einer Sänfte hereingetragen und dann die Türen geschlossen… und morgens ist sie tot… dann erst hat man die Diener gerufen, und plötzlich gellt das Haus von Geschrei… im Nu wissen es die Nachbarn, die ganze Stadt… und nur einer ist da, der das alles erklären soll… ich, der fremde Mensch, der Arzt aus einer entlegenen Station… Eine erfreuliche Situation, nicht wahr?… Ich wusste, was mir bevorstand. Glücklicherweise war der Boy bei mir, der brave Bursche. Ich hatte ihm nur gesagt: „Die Frau will, dass niemand erfährt, was geschehen ist.“ Er sah mir in die Augen mit seinem hündisch feuchten und doch entschlossenen Blick: „Yes, Sir“, mehr sagte er nicht. Aber er wusch die Blutspuren vom Boden, richtete alles in beste Ordnung – und gerade seine Entschlossenheit gab mir die meine wieder.

Nie im Leben, das weiß ich, habe ich eine ähnlich zusammengeballte Energie gehabt, nie werde ich sie wieder haben. Wenn man alles verloren hat, dann kämpft man um das Letzte wie ein Verzweifelter – und das Letzte war ihr Vermächtnis[255], das Geheimnis. Ich empfing voll Ruhe die Leute, erzählte ihnen allen die gleiche erdichtete[256] Geschichte, wie der Boy, den sie um den Arzt gesandt hatte, mich zufällig auf dem Wege traf. Aber während ich scheinbar ruhig redete, wartete… wartete ich immer auf das Entscheidende… auf den Totenbeschauer, der erst kommen musste, ehe wir sie in den Sarg verschließen konnten und das Geheimnis mit ihr… Es war, vergessen Sie nicht, Donnerstag, und Samstag kam ihr Gatte…

Um neun Uhr hörte ich endlich, wie man den Amtsarzt anmeldete. Ich hatte ihn rufen lassen – er war mein Vorgesetzter im Rang und gleichzeitig mein Konkurrent, derselbe Arzt, von dem sie seinerzeit so verächtlich[257] gesprochen und der offenbar meinen Wunsch nach Versetzung bereits erfahren hatte. Bei seinem ersten Blick spürte ich es schon: er war mir Feind. Aber gerade das straffte meine Kraft.

Im Vorzimmer fragte er schon: „Wann ist Frau… – er nannte ihren Namen – gestorben?“

„Um sechs Uhr morgens.“

„Wann sandte sie zu Ihnen?“

„Um elf Uhr abends.“

„Wussten Sie, dass ich ihr Arzt war?“

„Ja, aber es tat Eile not… und dann… die Verstorbene hatte ausdrücklich mich verlangt. Sie hatte verboten, einen andern Arzt rufen zu lassen.“

Er starrte mich an: in seinem bleichen Gesicht flog eine Röte hoch, ich spürte, dass er erbittert war. Aber gerade das brauchte ich – alle meine Energien drängten[258] sich zu rascher Entscheidung, denn ich spürte, lange hielten es meine Nerven nicht mehr aus. Er wollte etwas Feindliches erwidern, dann sagte er lässig: „Wenn Sie schon meinen, mich entbehren zu können[259], so ist es doch meine amtliche Pflicht, den Tod zu konstatieren und… wie er eingetreten ist.“ Ich antwortete nicht und ließ ihn vorangehen. Dann trat ich zurück, schloss die Tür und legte den Schlüssel auf den Tisch. Überrascht zog er die Augenbrauen hoch: „Was bedeutet das?“

Ich stellte mich ruhig ihm gegenüber: „Es handelt sich hier nicht darum, die Todesursache festzustellen, sondern – eine andere zu finden. Diese Frau hat mich gerufen, um sie nach… nach den Folgen eines verunglückten Eingriffes zu behandeln… ich konnte sie nicht mehr retten, aber ich habe ihr versprochen, ihre Ehre zu retten, und das werde ich tun. Und ich bitte Sie darum, mir zu helfen!“

Seine Augen waren ganz weit geworden vor Erstaunen. „Sie wollen doch nicht etwa sagen“, stammelte er dann, „dass ich, der Amtsarzt, hier ein Verbrechen decken soll?“

„Ja, das will ich, das muss ich wollen.“

„Für Ihr Verbrechen soll ich…“

„Ich habe Ihnen gesagt, dass ich diese Frau nicht berührt habe, sonst… sonst stünde ich nicht vor Ihnen, sonst hätte ich längst mit mir Schluss gemacht. Sie hat ihr Vergehen[260] – wenn Sie es so nennen wollen – gebüßt[261], die Welt braucht davon nichts zu wissen. Und ich werde es nicht dulden, dass die Ehre dieser Frau jetzt noch unnötig beschmutzt wird.“ Mein entschlossener Ton reizte ihn nur noch mehr auf. „Sie werden nicht dulden… so… nun, Sie sind ja mein Vorgesetzter… oder glauben es wenigstens schon zu sein… Versuchen Sie nur, mir zu befehlen… ich habe mir gleich gedacht, da ist Schmutziges im Spiel, wenn man Sie aus Ihrem Winkel herruft… eine saubere Praxis, die Sie da anfangen, ein sauberes Probestück… Aber jetzt werde ich untersuchen, ich, und Sie können sich darauf verlassen, dass ein Protokoll, unter dem mein Name steht, richtig sein wird. Ich werde keine Lüge unterschreiben.“

Ich war ganz ruhig.

„Ja – das müssen Sie diesmal doch. Denn früher werden Sie das Zimmer nicht verlassen.“

Ich griff dabei in die Tasche – meinen Revolver hatte ich nicht bei mir. Aber er zuckte zusammen. Ich trat einen Schritt auf ihn zu und sah ihn an. „Hören Sie, ich werde Ihnen etwas sagen… damit es nicht zum Äußersten kommt[262]. Mir liegt an meinem Leben nichts… nichts an dem eines andern – ich bin nun schon einmal soweit… mir liegt einzig daran, mein Versprechen einzulösen, dass die Art dieses Todes geheim bleibt… Hören Sie: ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass, wenn Sie das Zertifikat unterfertigen, diese Frau sei an… nun an einer Zufälligkeit gestorben, dass ich dann noch im Laufe dieser Woche die Stadt und Indien verlasse… dass ich, wenn Sie es verlangen, meinen Revolver nehme und mich niederschieße, sobald der Sarg in der Erde ist und ich sicher sein kann, dass niemand… Sie verstehen: niemand – mehr nachforschen[263] kann. Das wird Ihnen wohl genügen – das muss Ihnen genügen.“

Es muss etwas Gefährliches in meiner Stimme gewesen sein, denn wie ich unwillkürlich nähertrat, wich[264] er zurück mit jenem aufgerissenen Entsetzen, wie… wie eben Menschen vor dem Amokläufer flüchten, wenn er rasend hinrennt mit geschwungenem[265] Kris… Und mit einem Mal war er anders… irgendwie geduckt[266] und gelähmt… seine harte Haltung brach ein. Er murmelte mit einem letzten ganz weichen Widerstand: „Es wäre das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein falsches Zertifikat unterzeichnete… immerhin, es wird sich schon eine Form finden lassen… man weiß ja auch, was vorkommt… Aber ich durfte doch nicht so ohne weiteres…“

„Gewiss durften Sie nicht“, half ich ihm, um ihn zu bestärken – aber jetzt, da Sie wissen, dass Sie nur einen Lebenden kränken[267] würden und einer Toten ein Entsetzliches täten, werden Sie doch gewiss nicht zögern.“

Er nickte. Wir traten zum Tisch. Nach einigen Minuten war das Attest fertig (das dann auch in der Zeitung veröffentlicht wurde und glaubhaft eine Herzlähmung[268] schilderte). Dann stand er auf, sah mich an: „Sie reisen noch diese Woche, nicht wahr?“

„Mein Ehrenwort.“

Er sah mich wieder an. Ich merkte, er wollte streng, wollte sachlich erscheinen. „Ich besorge sofort einen Sarg“, sagte er, um seine Verlegenheit zu decken. Plötzlich streckte er mir die Hand hin und schüttelte sie mit einer aufspringenden Herzlichkeit. „Überstehen Sie’s gut“, sagte er – ich wusste nicht, was er meinte. War ich krank? War ich… wahnsinnig? Ich begleitete ihn zur Tür, schloss auf, aber das war meine letzte Kraft, die hinter ihm die Tür schloss. Dann kam dies Ticken wieder in die Schläfen, alles schwankte und kreiste: und gerade vor ihrem Bett fiel ich zusammen… so… so wie der Amokläufer am Ende seines Laufs sinnlos niederfällt mit zersprengten Nerven.“

Wieder hielt er inne[269]. Irgendwie fröstelte mich: war das erster Schauer des Morgenwinds, der jetzt leise sausend über das Schiff lief? Aber das gequälte Gesicht spannte sich wieder zusammen: „Wie lang ich so auf der Matte gelegen hatte, weiß ich nicht. Da rührte mich es an. Ich fuhr auf. Es war der Boy.

„Es will jemand herein… will sie sehen…“

„Niemand darf herein.“

„Ja… aber…“

Seine Augen waren erschreckt. Er wollte etwas sagen und wagte es doch nicht. Das treue Tier litt irgendwie eine Qual.

„Wer ist es?“

Er sah mich zitternd an wie in Furcht vor einem Schlag. Und dann sagte er – er nannte keinen Namen, dann sagte er… ganz, ganz ängstlich… „Er ist es.“

Ich fuhr auf, verstand sofort und war sofort ganz Gier, ganz Ungeduld nach diesem Unbekannten. Denn sehen Sie, wie sonderbar… inmitten all dieser Qual, in diesem Fieber von Verlangen, von Angst und Hast hatte ich ganz an „ihn“ vergessen… vergessen, dass da noch ein Mann im Spiele war… der Mann, den diese Frau geliebt, dem sie leidenschaftlich das gegeben, was sie mir verweigert[270]… Vor zwölf, vor vierundzwanzig Stunden hätte ich diesen Mann noch gehasst, ihn noch zerfleischen können… Jetzt… ich kann, ich kann Ihnen nicht schildern, wie es mich jagte, ihn zu sehen… ihn… zu lieben, weil sie ihn geliebt.

Mit einem Ruck war ich bei der Tür. Ein junger, ganz junger blonder Offizier stand dort, sehr linkisch[271], sehr schmal, sehr blass. Wie ein Kind sah er aus, so… so rührend jung… und unsäglich erschütterte mich gleich, wie er sich mühte, Mann zu sein, Haltung zu zeigen… Ich sah sofort, dass seine Hände zitterten, als er zur Mütze fuhr… Am liebsten hätte ich ihn umarmt… weil er ganz so war, wie ich mir es wünschte, dass der Mann sein sollte, der diese Frau besessen… kein Verführer, kein Hochmütiger… nein, ein halbes Kind, ein reines Wesen, dem sie sich geschenkt. Ganz befangen stand der junge Mensch vor mir. Mein gieriger Blick, mein leidenschaftlicher Aufsprung machten ihn noch mehr verwirrt.

„Verzeihen Sie“, sagte er dann endlich. „Ich hätte gerne Frau… gerne noch… gesehen.“ Unbewusst, ganz ohne es zu wollen, legte ich ihm, dem Fremden, meinen Arm um die Schulter, führte ihn, wie man einen Kranken führt. Er sah mich erstaunt an mit einem unendlich warmen und dankbaren Blick… irgendein Verstehen unserer Gemeinschaft war schon in dieser Sekunde zwischen uns beiden… Wir gingen zu der Toten… Sie lag da, weiß, in den weißen Linnen – ich spürte, dass meine Nähe ihn noch bedrückte… so trat ich zurück, um ihn allein zu lassen mit ihr. Er ging langsam näher mit… er ging so wie… wie einer, der gegen einen ungeheuren Sturm geht… Und plötzlich brach er vor dem Bett in die Knie… genau so, wie ich hingebrochen war.

Ich sprang sofort vor, hob ihn empor und führte ihn zu einem Sessel. Er schämte sich nicht mehr, sondern schluchzte seine Qual heraus. Ich vermochte nichts zu sagen – nur mit der Hand strich ich ihm unbewusst über sein blondes, kindlich weiches Haar. Er griff nach meiner Hand… ganz lind und doch ängstlich… und mit einem Mal fühlte ich seinen Blick an mir hängen…

„Sagen Sie mir die Wahrheit, Doktor“, stammelte er, „hat sie selbst Hand an sich gelegt[272]?“

„Nein“, sagte ich. „Und ist… ich meine… ist irgend… irgendjemand schuld an ihrem Tode?“ „Nein“, sagte ich wieder, obwohl ich wollte entgegenschreien: „Ich! Ich! Ich!.. Und du!.. Wir beide! Und ihr Trotz, ihr unseliger Trotz!“ Aber ich hielt mich zurück. Ich wiederholte noch einmaname = "note" „Nein… niemand hat schuld daran… es war ein Verhängnis[273]!“

„Ich kann es nicht glauben“, stöhnte er, „ich kann es nicht glauben. Sie war noch vorgestern auf dem Balle, sie lächelte, sie winkte mir zu. Wie ist das möglich, wie konnte das geschehen?“

Ich erzählte eine lange Lüge. Auch ihm verriet ich ihr Geheimnis nicht. Wie zwei Brüder sprachen wir zusammen alle diese Tage… und das wir einander nicht anvertrauten, aber wir spürten einer vom andern, dass unser ganzes Leben an dieser Frau hing… Nie hat er erfahren, dass sie ein Kind von ihm trug… dass ich das Kind, sein Kind, hätte töten sollen, und dass sie es mit sich selbst in den Abgrund gerissen. Und doch sprachen wir nur von ihr in diesen Tagen, während derer ich mich bei ihm verbarg… denn – das hatte ich vergessen, Ihnen zu sagen – man suchte nach mir…

Ihr Mann war gekommen, als der Sarg schon geschlossen war… er wollte den Befund[274] nicht glauben… und er suchte mich. Aber ich konnte es nicht ertragen, ihn zu sehen, ihn, von dem ich wusste, dass sie unter ihm gelitten[275]… Vier Tage ging ich nicht aus dem Hause, gingen wir beide nicht aus der Wohnung… ihr Geliebter hatte mir unter einem falschen Namen einen Schiffsplatz genommen, damit ich flüchten könne… wie ein Dieb bin ich nachts auf das Deck geschlichen, dass niemand mich erkennt… Alles habe ich zurückgelassen, was ich besitze… und die Herren von der Regierung haben mich wohl schon gestrichen, weil ich ohne Urlaub meinen Posten verließ… Aber ich konnte nicht leben mehr in diesem Haus, in dieser Stadt… in dieser Welt, wo alles mich an sie erinnert… wie ein Dieb bin ich geflohen in der Nacht… nur sie zu vergessen…Aber… wie ich an Bord kam… nachts… mitternachts… mein Freund war mit mir… da… da… zogen sie gerade am Kran etwas herauf… rechteckig[276], schwarz… ihren Sarg… hören Sie: ihren Sarg… sie hat mich hierher verfolgt, wie ich sie verfolgte… und ich musste dabeistehen, mich fremd stellen, denn er, ihr Mann, war mit… er begleitet ihn nach England… vielleicht will er dort eine Autopsie[277] machen lassen….. jetzt gehört sie wieder ihm… nicht uns mehr, uns… uns beiden… Aber ich bin noch da… ich gehe mit bis zur letzten Stunde… er wird, er darf es nie erfahren… ihr Geheimnis gehört mir, nur mir allein… Verstehen Sie jetzt… verstehen Sie jetzt… warum ich die Menschen nicht sehen kann… ihr Gelächter nicht hören… wenn sie flirten und sich paaren… denn da drunten… drunten im Lagerraum steht der Sarg verstaut…

Ich kann nicht hin, der Raum ist versperrt… aber ich weiß es mit allen meinen Sinnen, weiß es in jeder Sekunde… auch wenn sie hier Walzer spielen und Tango… diese Tote, ich spüre sie, und ich weiß, was sie von mir will… ich weiß es, ich habe noch eine Pflicht… ich bin noch nicht zu Ende… noch ist ihr Geheimnis nicht gerettet… sie gibt mich noch nicht frei…“

Vom Mittelschiff[278] kamen schlurfende[279] Schritte: Matrosen begannen das Deck zu scheuern[280]. Er stand auf und murmelte: „Ich gehe schon… ich gehe schon.“ Es war eine Qual, ihn anzuschauen: seinen verwüsteten [281]Blick, die gedunsenen Augen, rot von Trinken oder Tränen. Ich spürte aus seinem Wesen Scham, unendliche Scham, sich verraten zu haben an mich, an diese Nacht. Unwillkürlich sagte ich: „Darf ich vielleicht nachmittags zu Ihnen in die Kabine kommen…“

Er sah mich an – ein harter, zynischer Zug zerrte an seinen Lippen, etwas Böses stieß und verkrümmte jedes Wort.

„Aha… Ihre famose Pflicht, zu helfen… aha… Mit der Maxime haben Sie mich ja glücklich zum Schwatzen[282] gebracht. Aber nein, mein Herr, ich danke. Glauben Sie ja nicht, dass mir jetzt leichter sei. Mein verpfuschtes[283] Leben kann mir keiner mehr zusammenflicken… ich habe eben umsonst der holländischen Regierung gedient… die Pension ist futsch[284], ich komme als armer Hund nach Europa zurück… ein Hund, der hinter einem Sarg herwinselt[285]… man läuft nicht lange ungestraft Amok, am Ende schlägts einen doch nieder, und ich hoffe, ich bin bald am Ende… Nein, danke, mein Herr, für Ihren gütigen Besuch… ich habe schon in der Kabine meine Gefährten[286]… ein paar gute alte Flaschen Whisky, die trösten mich manchmal, und dann meinen Freund von damals, an den ich mich leider nicht rechtzeitig gewandt habe, meinen braven Browning… Bitte, bemühen Sie sich nicht… das einzige Menschenrecht, das einem bleibt, ist doch: zu krepieren[287] wie man will… und dabei ungeschoren zu bleiben von fremder Hilfe.“

Er sah mich noch einmal höhnisch[288]… ja herausfordernd an, aber ich spürte: es war nur Scham, grenzenlose Scham. Dann duckte er die Schultern, wandte sich um, ohne zu grüßen, und ging merkwürdig schief über das schon helle Verdeck den Kabinen zu. Ich habe ihn nicht mehr gesehen. Vergebens[289] suchte ich ihn nachts und die nächste Nacht an der gewohnten Stelle. Er blieb verschwunden, und ich hätte an einen Traum geglaubt oder an eine phantastische Erscheinung, wäre mir nicht inzwischen unter den Passagieren ein anderer aufgefallen, mit einem Trauerflor um den Arm, ein holländischer Großkaufmann, der eben seine Frau an einer Tropenkrankheit verloren hatte. Ich bog immer zur Seite, wenn er vorüberkam, um nicht mit einem Blick zu verraten, dass ich mehr von seinem Schicksal wusste als er selbst.

Im Hafen von Neapel ereignete sich dann jener merkwürdige Unfall, dessen Deutung ich in der Erzählung des Fremden zu finden glaube. Die meisten Passagiere waren abends von Bord gegangen, ich selbst in die Oper und dann noch in eines der hellen Cafés an der Via Roma. Als wir mit einem Ruderboot[290] zu dem Dampfer zurückkehrten, fiel mir schon auf, dass einige Boote mit Fackeln und Azetylen Lampen das Schiff suchend umkreisten, und oben am dunklen Bord war ein geheimnisvolles Gehen und Kommen von Gendarmerie. Ich fragte einen Matrosen, was geschehen sei. Er wich in einer Weise aus, die sofort zeigte, dass Auftrag zum Schweigen gegeben sei, und auch am nächsten Tage war nichts an Bord zu erfahren.

Erst in den italienischen Zeitungen las ich dann romantisch ausgeschmückt, von jenem angeblichen Unfall im Hafen von Neapel. In jener Nacht sollte der Sarg einer vornehmen Dame aus den holländischen Kolonien von Bord des Schiffes auf ein Boot gebracht werden, und man ließ ihn eben in Gegenwart [291]des Gatten die Strickleiter[292] herab, als irgendetwas Schweres vom hohen Bord niederstürzte und den Sarg mit den Trägern und dem Gatten mit sich in die Tiefe riss. Eine Zeitung behauptete, es sei ein Irrsinniger gewesen, der sich die Treppe hinab auf die Strickleiter gestürzt habe, eine andere beschönigte[293], die Leiter sei von selbst unter dem übergroßen Gewicht gerissen: jedenfalls schien die Schifffahrtsgesellschaft alles getan zu haben, um den genauen Sachverhalt zu verschleiern[294]. Man rettete nicht ohne Mühe die Träger und den Gatten der Verstorbenen mit Booten aus dem Wasser, der Bleisarg aber ging sofort in die Tiefe und konnte nicht mehr geborgen werden.

Dass gleichzeitig in einer andern Notiz kurz erwähnt wurde, es sei die Leiche eines etwa vierzigjährigen Mannes im Hafen angeschwemmt[295] worden, schien für die Öffentlichkeit in keinem Zusammenhang mit dem romantisch reportierten Unfall zu stehen; mir aber war, kaum dass ich die flüchtige Zeile gelesen, als starre plötzlich hinter dem papierenen Blatt das mondweiße Antlitz mit den glitzernden Brillengläsern mir noch einmal gespenstisch[296] entgegen.

Schachnovelle

Auf dem großen Passagierdampfer, der um Mitternacht von New York nach Buenos Aires abgehen sollte, herrschte die übliche Geschäftigkeit und Bewegung der letzten Stunde. Gäste vom Land drängten[297] durcheinander, um ihren Freunden das Geleit zu geben[298], Telegraphenboys mit schiefen Mützen schossen Namen ausrufend durch die Gesellschaftsräume, Koffer und Blumen wurden geschleppt, Kinder liefen neugierig treppauf und treppab, während das Orchester unerschütterlich zur Deck-show spielte.

Ich stand im Gespräch mit einem Bekannten etwas abseits von diesem Getümmel [299]auf dem Promenadendeck, als neben uns zwei-oder dreimal Blitzlicht scharf aufsprühte – anscheinend war irgendein Prominenter knapp vor der Abfahrt noch rasch von Reportern interviewt und fotografiert worden.

Mein Freund blickte hin und lächelte. „Sie haben da einen raren Vogel an Bord, den Czentovic.“ Und da ich offenbar ein ziemlich verständnisloses Gesicht zu dieser Mitteilung machte, fügte er erklärend bei: „Mirko Czentovic, der Weltschachmeister. Er hat ganz Amerika von Ost nach West mit Turnierspielen abgeklappert und fährt jetzt zu neuen Triumphen nach Argentinien.“

In der Tat erinnerte ich mich nun dieses jungen Weltmeisters und sogar einiger Einzelheiten im Zusammenhang mit seiner raketenhaften Karriere; mein Freund, ein aufmerksamerer Zeitungsleser als ich, konnte sie mit einer ganzen Reihe von Anekdoten ergänzen. Czentovic hatte sich vor etwa einem Jahr mit einem Schlage neben die bewährtesten Altmeister der Schachkunst, wie Aljechin, Capablanca, Tartakower, Lasker, Bogoljubow, gestellt. Seit dem Auftreten des siebenjährigen Wunderkindes Rzecewski bei dem Schachturnier in New York hatte noch nie der Einbruch eines völlig Unbekannten in die Gilde derart[300] allgemeines Aufsehen erregt. Denn Czentovics intellektuelle Eigenschaften schienen ihm keineswegs solch eine blendende Karriere von vornherein[301] zu weissagen. Bald sickerte[302] das Geheimnis durch, dass dieser Schachmeister in seinem Privatleben außerstande[303] war, in irgendeiner Sprache einen Satz ohne orthographischen Fehler zu schreiben.

Sohn eines blutarmen südslawischen Donauschiffers, dessen winzige Barke eines Nachts von einem Getreidedampfer überrannt[304] wurde, war der damals Zwölf. Nach dem Tode seines Vaters vom Pfarrer[305] aus Mitleid aufgenommen worden, und der gute Pater bemühte sich redlich, durch häusliche Nachhilfe wettzumachen, was das maulfaule, dumpfe, Kind in der Dorfschule nicht zu erlernen vermochte.

Aber die Anstrengungen blieben vergeblich. Mirko starrte die ihm schon hundertmal erklärten Schriftzeichen immer wieder fremd an. Wenn er rechnen sollte, musste er noch mit vierzehn Jahren die Finger zu Hilfe nehmen, und ein Buch oder eine Zeitung zu lesen, bedeutete für den noch besondere Anstrengung.

Dabei konnte man Mirko keineswegs unwillig oder widerspenstig[306] nennen. Was den guten Pfarrer aber an dem querköpfigen Knaben am meisten verdross[307], war seine totale Teilnahmslosigkeit. Er tat nichts ohne besondere Aufforderung, stellte nie eine Frage, spielte nicht mit anderen Burschen und suchte von selbst keine Beschäftigung; sobald Mirko die Verrichtungen des Haushalts erledigt hatte, saß er stur im Zimmer herum mit jenem leeren Blick. Während der Pfarrer Abends mit dem Gendarmerie Wachtmeister seine üblichen drei Schachpartien spielte, hockte[308] der blondsträhnige Bursche stumm daneben und starrte unter seinen schweren Lidern anscheinend schläfrig und gleichgültig auf das karierte Brett.

Eines Winterabends klingelten, während die beiden Partner in ihre tägliche Partie vertieft waren, von der Dorfstraße her die Glöckchen eines Schlittens. Ein Bauer stapfte hastig herein, seine alte Mutter läge im Sterben, und der Pfarrer möge eilen, ihr noch rechtzeitig die letzte Ölung[309] zu erteilen. Ohne zu zögern folgte ihm der Priester. Der Gendarmerie Wachtmeister, der sein Glas Bier noch nicht ausgetrunken hatte, zündete sich zum Abschied eine neue Pfeife an und bereitete sich eben vor, die schweren Schaftstiefel anzuziehen, als ihm auffiel, wie unentwegt der Blick Mirkos auf dem Schachbrett mit der angefangenen Partie haftete.

„Na, willst du sie zu Ende spielen?“ spaßte er, vollkommen überzeugt, dass der schläfrige Junge nicht einen einzigen Stein auf dem Brett richtig zu rücken verstünde. Der Knabe starrte scheu auf, nickte dann und setzte sich auf den Platz des Pfarrers. Nach vierzehn Zügen war der Gendarmerie Wachtmeister Geschlagen.

Die zweite Partie fiel nicht anders aus. „Bileams Esel[310]!“ rief erstaunt bei seiner Rückkehr der Pfarrer aus, dem weniger bibelfesten Gendarmerie Wachtmeister erklärend, schon vor zweitausend Jahren hätte sich ein ähnliches Wunder ereignet, dass ein stummes Wesen plötzlich die Sprache der Weisheit gefunden habe. Trotz der vorgerückten Stunde[311] konnte der Pfarrer sich nicht enthalten, seinen halb analphabetischen Famulus[312] zu einem Zweikampf herauszufordern. Mirko schlug auch ihn mit Leichtigkeit. Er spielte langsam, ohne ein einziges Mal die gesenkte breite Stirn vom Brette aufzuheben. Aber er spielte mit unwiderlegbarer Sicherheit.

Der Pfarrer wurde nun ernstlich neugierig, wie weit diese einseitige sonderbare Begabung einer strengeren Prüfung standhalten würde. Er nahm Mirko in seinem Schlitten in die kleine Nachbarstadt mit, wo er im Café des Hauptplatzes eine Ecke mit enragierten Schachspielern wusste. Es erregte bei der ansässigen Runde nicht geringes Staunen, als der Pfarrer den fünfzehnjährigen Burschen in seinem hohen Schaftstiefeln in das Kaffeehaus schob, wo der Junge befremdet mit sche Augen in einer Ecke stehenblieb, bis man ihn zu einem der Schachtische hinrief.

In der ersten Partie wurde Mirko geschlagen, da er die sogenannte Sizilianische Eröffnung bei dem guten Pfarrer nie gesehen hatte. In der zweiten Partie kam er schon gegen den besten Spieler auf Remis. Von der dritten und vierten an schlug er sie alle, einen nach dem andern. Nun ereignen sich in einer kleinen südslawischen Provinzstadt höchst selten aufregende Dinge; so wurde das erste Auftreten dieses bäuerlichen Champions für die versammelten Honoratioren zur Sensation. Einstimmig wurde beschlossen, der Wunderknabe müsste unbedingt noch bis zum nächsten Tage in der Stadt bleiben, damit man die anderen Mitglieder des Schachklubs zusammenrufen und vor allem den alten Grafen Simczic, einen Fanatiker des Schachspiels, auf seinem Schlosse verständigen könne. Der junge Czentovic wurde im Hotel einquartiert und sah an diesem Abend zum ersten mal ein Stefan Zweig Wasserklosett.

Mirko, unbeweglich vier Stunden vor dem Brett sitzend, besiegte einen Spieler nach dem andern; schließlich wurde eine Simultanpartie[313] vorgeschlagen. Es dauerte eine Weile, ehe man dem Unbelehrten begreiflich machen konnte, dass bei einer Simultanpartie er allein gegen die verschiedenen Spieler zu kämpfen hätte. Aber sobald Mirko diesen Usus begriffen, fand er sich rasch in die Aufgabe und gewann schließlich sieben von den acht Partien.

Nun begannen große Beratungen. Obwohl dieser neue Champion nicht zur Stadt gehörte, war doch der heimische Nationalstolz lebhaft entzündet[314]. Vielleicht konnte endlich die kleine Stadt zum ersten Mal sich die Ehre erwerben, einen berühmten Mann in die Welt zu schicken.

Ein Agent namens Koller, sonst nur Chansonetten und Sängerinnen für das Kabarett der Garnison vermittelnd, erklärte sich bereit den jungen Menschen in Wien von einem ihm bekannten ausgezeichneten kleinen Meister fachmäßig in der Schachkunst ausbilden zu lassen. Graf Simczic, dem in sechzig Jahren täglichen Schachspieles nie ein so merkwürdiger Gegner entgegengetreten war, zeichnete sofort den Betrag. Mit diesem Tage begann die erstaunliche Karriere des Schiffersohnes.

Nach einem halben Jahre beherrschte Mirko sämtliche Geheimnisse der Schachtechnik, allerdings mit einer seltsamen Einschränkung, die später in den Fachkreisen viel beobachtet wurde. Denn Czentovic brachte es nie dazu, auch nur eine einzige Schachpartie auswendig – oder wie man fachgemäß sagt: blind – zu spielen[315]. Ihm fehlte vollkommen die Fähigkeit, das Schlachtfeld in den unbegrenzten Raum der Phantasie zu stellen. Er musste immer das schwarzweiße Karree mit den vierundsechzig Feldern und zweiunddreißig Figuren handgreiflich vor sich haben. Aber diese merkwürdige Eigenheit verzögerte keineswegs Mirkos Aufstieg. Mit siebzehn Jahren hatte er schon ein Dutzend Schachpreise gewonnen, mit achtzehn sich die ungarische Meisterschaft, mit zwanzig endlich die Weltmeisterschaft erobert.

So geschah es, dass in die illustre Galerie der Schachmeister, die in ihren Reihen die verschiedensten Typen intellektueller Überlegenheit vereinigt zum ersten Mal ein völliger Outsider der geistigen Welt einbrach, ein schwerer Bauernbursche, aus dem auch nur ein einziges publizistisch brauchbares Wort herauszulocken[316] selbst den gerissensten Journalisten nie gelang. Er ersetzte bald reichlich durch Anekdoten über seine Person. Trotz seines feierlichen schwarzen Anzuges, seiner pompösen Krawatte und seiner mühsam manikürten Finger blieb er in seinen Manieren derselbe beschränkte Bauernjunge, der im Dorf die Stube des Pfarrers gefegt. Ungeschickt suchte er zum Gaudium[317] und zum Ärger seiner Fachkollegen aus seiner Begabung und seinem Ruhm mit einer kleinlichen und sogar oft ordinären Habgier[318] herauszuholen, was an Geld herauszuholen war. Er reiste von Stadt zu Stadt, immer in den billigsten Hotels wohnend, er spielte in den kläglichsten Vereinen, sofern man ihm sein Honorar bewilligte, er ließ sich abbilden auf Seifenreklamen und verkaufte sogar, ohne auf den Spott seiner Konkurrenten zu achten, die genau wussten, dass er nicht im Stande war, drei Sätze richtig zu schreiben, seinen Namen für eine „Philosophie des Schachs“, die in Wirklichkeit ein kleiner galizischer Student für den geschäftstüchtigen Verleger geschrieben. Wie allen zähen Naturen fehlte ihm jeder Sinn für das Lächerliche: seit seinem Siege im Weltturnier hielt er sich für den wichtigsten Mann der Welt.

„Aber wie sollte ein so rascher Ruhm[319] nicht einen so leeren Kopf beduseln?“ schloss mein Freund. „Ist es nicht eigentlich verflucht leicht, sich für einen großen Menschen zu halten, wenn man nicht mit der leisesten Ahnung belastet ist, dass ein Rembrandt, ein Beethoven, ein Dante, Stefan Zweig ein Napoleon je gelebt haben? Dieser Bursche weiß in seinem Gehirn nur das eine, dass er seit Monaten nicht eine einzige Schachpartie verloren hat, und da er eben nicht ahnt, dass es außer Schach und Geld noch andere Werte auf unserer Erde gibt, hat er allen Grund, von sich begeistert zu sein.“

Diese Mitteilungen meines Freundes verfehlten nicht, meine besondere Neugierde zu erregen. Alle Arten von monomanischen, in eine einzige Idee verschossenen Menschen haben mich zeitlebens angereizt. So machte ich aus meiner Absicht, dieses sonderbare Spezimen intellektueller Eingleisigkeit auf der zwölftägigen Fahrt bis Rio näher unter die Lupe zu nehmen, kein Hehl. Jedoch: „Da werden Sie wenig Glück haben“, warnte mein Freund. „Soviel ich weiß, ist es noch keinem gelungen, aus Czentovic das geringste an psychologischem Material herauszuholen. Hinter all seiner Beschränktheit verbirgt dieser gerissene Bauer die große Klugheit, und zwar dank der simplen Technik, dass er außer mit Landsleuten seiner eigenen Sphäre, jedes Gespräch vermeidet. Wo er einen gebildeten Menschen spürt, kriecht er in sein Schneckenhaus; so kann niemand sich rühmen[320], je ein dummes Wort von ihm gehört oder die angeblich unbegrenzte Tiefe seiner Unbildung ausgemessen zu haben.“

Mein Freund sollte in der Tat recht behalten. Während der ersten Tage der Reise erwies es sich als vollkommen unmöglich, an Czentovic heranzukommen. Manchmal schritt er zwar über das Promenadendeck, aber dann immer die Hände auf dem Rücken verschränkt mit jener stolz in sich versenkten Haltung, wie Napoleon auf dem bekannten Bilde. Nach drei Tagen begann ich mich tatsächlich zu ärgern, dass seine geschickte [321] Abwehrtechnik geschickter war als mein Wille, an ihn heranzukommen. Ich hatte in meinem Leben noch nie Gelegenheit gehabt, die persönliche Bekanntschaft eines Schachmeisters zu machen, und je mehr ich mich jetzt bemühte, mir einen solchen Typus zu personifizieren, um so unvorstellbarer schien mir eine Gehirntätigkeit, die ein ganzes Leben lang ausschließlich um einen Raum von vierundsechzig schwarzen und weißen Feldern rotiert. Ich wusste wohl aus eigener Erfahrung um die geheimnisvolle Attraktion des „königlichen Spiels“, dieses einzigen unter allen Spielen, die der Mensch ersonnen, das sich souverän jeder Tyrannis des Zufalls entzieht und seine Siegespalmen einzig dem Geist oder vielmehr einer bestimmten Form geistiger Begabung[322] zuteilt.

Und nun war ein solches Phänomen, ein solches sonderbares Genie zum ersten Mal ganz nahe. Ich begann, mir die absurdesten Listen auszudenken: etwa, ihn in seiner Eitelkeit zu kitzeln[323], indem ich ihm ein angebliches Interview für eine wichtige Zeitung vortäuschte, oder bei seiner Habgier zu packen, dadurch, dass ich ihm ein einträgliches Turnier in Schottland proponierte. Aber schließlich erinnerte ich mich, dass die bewährteste Technik der Jäger, den Auerhahn[324] an sich heranzulocken, darin besteht, dass sie seinen Balzschrei nachahmen; was konnte eigentlich wirksamer sein, um die Aufmerksamkeit eines Schachmeisters auf sich zu ziehen, als indem man selber Schach spielte?

Nun bin ich zeitlebens nie ein ernstlicher Schachkünstler gewesen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil ich mich mit Schach immer bloß leichtfertig und ausschließlich zu meinem Vergnügen befasste; wenn ich mich für eine Stunde vor das Brett setze, geschieht dies keineswegs, um mich anzustrengen, sondern im Gegenteil, um mich von geistiger Anspannung zu entlasten. Um sie aus ihren Höhlen herauszulocken, stellte ich im Smoking Room eine primitive Falle auf, indem ich mich mit meiner Frau, obwohl sie noch schwächer spielt als ich, vor ein Schachbrett setzte. Und tatsächlich, wir hatten noch nicht sechs Züge getan, so blieb schon jemand im Vorübergehen stehen, ein zweiter erbat die Erlaubnis, zusehen zu dürfen; schließlich fand sich auch der erwünschte Partner, der mich zu einer Partie herausforderte. Er hieß McConnor und war ein schottischer Tiefbauingenieur. Er gehörte zu jener Sorte selbstbesessener Erfolgsmenschen, die auch im belanglosesten Spiel eine Niederlage schon als Herabsetzung ihres Persönlichkeitsbewußtseins empfinden. Als er die erste Partie verlor, wurde er mürrisch[325], bei der dritten machte er den Lärm im Nachbarraum für sein Versagen verantwortlich.

Am dritten Tag gelang es und gelang doch nur halb. Sei es, dass Czentovic uns vom Promenadendeck aus durch das Bordfenster vor dem Schachbrett beobachtet oder dass er nur zufälligerweise den Smoking Room mit seiner Anwesenheit beehrte – jedenfalls trat er, sobald er uns Unberufene seine Kunst ausüben sah, unwillkürlich einen Schritt näher und warf aus dieser gemessenen Distanz einen prüfenden Blick auf unser Brett. McConnor war gerade am Zuge. Und schon dieser eine Zug schien ausreichend, um Czentovic zu belehren, wie wenig ein weiteres Verfolgen unserer dilettantischen Bemühungen seines meisterlichen Interesses würdig sei.

„Gewogen und zu leicht befunden“, dachte ich mir, ein bisschen verärgert durch diesen kühlen, verächtlichen Blick, und um meinem Unmut irgendwie Luft zu machen[326], äußerte ich zu McConnor: „Ihr Zug scheint den Meister nicht sehr begeistert zu haben.“

„Welchen Meister?“

Ich erklärte ihm, jener Herr, der eben an uns vorübergegangen und mit missbilligendem Blick auf unser Spiel gesehen, sei der Schachmeister Czentovic gewesen.

Aber zu meiner Überraschung übte auf McConnor meine lässige Mitteilung eine völlig unerwartete Wirkung. Er wurde sofort erregt, vergaß unsere Partie, und sein Ehrgeiz begann geradezu hörbar zu pochen. Ob ich den Schachmeister persönlich kenne? Ich verneinte. Ob ich ihn nicht ansprechen wolle und zu uns bitten? Ich lehnte ab mit der Begründung, Czentovic sei meines Wissens für neue Bekanntschaften nicht sehr zugänglich. Außerdem, was für einen Reiz sollte es einem Weltmeister bieten, mit uns drittklassigen Spielern sich abzugeben?

Nun, das mit den drittklassigen Spielern hätte ich zu einem derart ehrgeizigen Manne wie McConnor lieber nicht äußern sollen. Er lehnte sich verärgert zurück und erklärte schroff, er für seinen Teil könne nicht glauben, dass Czentovic die höfliche Aufforderung eines Gentlemans ablehnen werde, dafür werde er schon sorgen. Ich wartete ziemlich gespannt. Nach zehn Minuten kehrte McConnor zurück, nicht sehr aufgeräumt[327], wie mir schien.

„Nun?“ fragte ich. „Sie haben recht gehabt“, antwortete er etwas verärgert. „Kein sehr angenehmer Herr. Ich stellte mich vor, erklärte ihm, wer ich sei. Er reichte mir nicht einmal die Hand. Ich versuchte, ihm auseinanderzusetzen, wie stolz und geehrt wir alle an Bord sein würden, wenn er eine Simultanpartie gegen uns spielen wollte. Aber er hielt seinen Rücken verflucht steif; es täte ihm leid, aber er habe kontraktliche Verpflichtungen gegen seinen Agenten, die ihm ausdrücklich untersagten, während seiner ganzen Tournee ohne Honorar zu spielen. Sein Minimum sei zweihundertfünfzig Dollar pro Partie.“

Ich lachte. „Auf diesen Gedanken wäre ich eigentlich nie geraten, dass Figuren von Schwarz auf Weiß zu schieben ein derart einträgliches Geschäft sein kann. Nun, ich hoffe, Sie haben sich ebenso höflich empfohlen.“

Aber McConnor blieb vollkommen ernst. „Die Partie ist für morgen Nachmittag drei Uhr angesetzt. Hier im Rauchsalon. Ich hoffe, wir werden uns nicht so leicht zu Brei schlagen lassen.“



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