Aber auch ich vergaß mich selbst. Wer war ich nun im Dunkel neben Dir? War ich, das brennende Kind von einst, war ich, die Mutter Deines Kindes, war ich, die Fremde? Ach, es war so vertraut, so erlebt alles, und alles wieder so rauschend neu in dieser leidenschaftlichen Nacht. Und ich betete, sie möchte kein Ende nehmen[96].
Aber der Morgen kam, wir standen spät auf, Du ladest mich ein, noch mit Dir zu frühstücken. Wir tranken zusammen den Tee und plauderten. Wieder sprachst Du mit der ganzen offenen, herzlichen Vertraulichkeit Deines Wesens zu mir und wieder ohne alle indiskreten Fragen, ohne alle Neugier nach dem Wesen, das ich war. Du fragtest nicht nach meinem Namen, nicht nach meiner Wohnung: ich war Dir wiederum nur das Abenteuer, das Namenlose, die heiße Stunde, die im Rauch des Vergessens spurlos sich löst.
Du erzähltest, dass Du jetzt weit weg reisen wolltest, nach Nordafrika für zwei oder drei Monate: ich zitterte mitten in meinem Glück, denn schon hämmerte es mir in den Ohren: vorbei, vorbei und vergessen! Am liebsten wäre ich hin zu Deinen Knien gestürzt und hätte geschrien: „Nimm mich mit, damit Du mich endlich erkennst, endlich, endlich nach so vielen Jahren!“ Aber ich war ja so scheu, so schwach vor Dir. Ich konnte nur sagen: „Wie schade.“ Du sahst mich lächelnd an: „Ist es Dir wirklich leid?“ Da fasste es mich wie eine plötzliche Wildheit[97]. Ich stand auf, sah Dich an, lange und fest. Dann sagte ich: „Der Mann, den ich liebte, ist auch immer weggereist.“ Ich sah Dich an, mitten in den Stern Deines Auges. „Jetzt, jetzt wird er mich erkennen!“ zitterte alles in mir. Aber Du lächeltest mir entgegen und sagtest tröstend: „Man kommt ja wieder zurück.“
„Ja“, antwortete ich, „man kommt zurück, aber dann hat man vergessen.“
Es muss etwas Absonderliches[98], etwas Leidenschaftliches in der Art gewesen sein, wie ich Dir das sagte. Denn auch Du ständest auf und sahst mich an, verwundert und sehr liebevoll. Du nahmst mich bei den Schultern. „Was gut ist, vergisst sich nicht, Dich werde ich nicht vergessen“, sagtest Du, und dabei senkte sich Dein Blick ganz in mich hinein, als wollte er dies Bild sich festprägen. Und wie ich diesen Blick in mich eindringen fühlte, da glaubte ich endlich, endlich den Bann der Blindheit gebrochen. Er wird mich erkennen, er wird mich erkennen! Meine ganze Seele zitterte in dem Gedanken.
Aber Du erkanntest mich nicht. Nein, Du erkanntest mich nicht, nie war ich Dir fremder jemals als in dieser Sekunde, denn sonst – sonst hättest Du nie tun können, was Du wenige Minuten später tätest. Du hast mich geküsst, noch einmal leidenschaftlich geküsst. Ich musste mein Haar, das sich verwirrt hatte, wieder zurechtrichten, und während ich vor dem Spiegel stand, da sah ich durch den Spiegel – und ich glaubte hinsinken zu müssen vor Scham und Entsetzen – da sah ich, wie Du in diskreter Art ein paargrößere Banknoten in meinen Muff schobst. Wie habe ich vermocht, nicht aufzuschreien, Dir nicht ins Gesicht zu schlagen in dieser Sekunde – mich, die ich Dich liebte von Kindheit an, die Mutter Deines Kindes, mich zahltest Du für diese Nacht! Eine Dirne aus dem Tabarin war ich Dir, nicht mehr – bezahlt, bezahlt hast Du mich! Es war nicht genug, von Dir vergessen zu werden, ich musste noch erniedrigt sein.
Ich tastete rasch nach meinen Sachen. Ich wollte fort, rasch fort. Es tat mir zu weh. Ich griff nach meinem Hut, er lag auf dem Schreibtisch neben der Vase mit den weißen Rosen, meinen Rosen. Da erfasste es mich mächtig, unwiderstehlich: noch einmal wollte ich es versuchen, Dich zu erinnern. „Möchtest Du mir nicht von Deinen weißen Rosen eine geben?“ „Gern“, sagtest Du und nahmst sie sofort. „Aber sie sind Dir vielleicht von einer Frau gegeben, von einer Frau, die Dich liebt?“ sagte ich. „Vielleicht“, sagtest Du, „ich weiß es nicht. Sie sind mir gegeben, und ich weiß nicht von wem; darum liebe ich sie so.“ Ich sah Dich an. „Vielleicht sind sie auch von einer, die Du vergessen hast!“ Du blicktest erstaunt. Ich sah Dich fest an. „Erkenne mich, erkenne mich endlich!“ schrie mein Blick. Aber Dein Auge lächelte freundlich und unwissend. Du küsstest mich noch einmal. Aber Du erkanntest mich nicht.
Ich ging rasch zur Tür, denn ich spürte, dass mir Tränen in die Augen schossen, und das solltest Du nicht sehen. Im Vorzimmer – so hastig war ich hinausgeeilt – stieß ich mit Johann, Deinem Diener, fast zusammen. Scheu und eilfertig[99] sprang er zur Seite, riss die Haustür auf, um mich hinauszulassen, und da – in dieser einen, hörst Du? in dieser einen Sekunde, da ich ihn ansah, mit tränenden Augen ansah, den gealterten Mann, da zuckte ihm plötzlich ein Licht in den Blick.
In dieser einen Sekunde, hörst Du? in dieser einen Sekunde, hat der alte Mann mich erkannt, der mich seit meiner Kindheit nicht gesehen. Ich hätte hinknien können vor ihm für dieses Erkennen und ihm die Hände küssen. So riss ich nur die Banknoten, mit denen Du mich gegeißelt, rasch aus dem Muff und steckte sie ihm zu. Er zitterte, sah erschreckt zu mir auf – in dieser Sekunde hat er vielleicht mehr geahnt von mir als Du in Deinem ganzen Leben. Alle, alle Menschen haben mich verwöhnt, alle waren zu mir gütig – nur Du, nur Du, Du hast mich vergessen, nur Du, nur Du hast mich nie erkannt!
Mein Kind ist gestorben, unser Kind – jetzt habe ich niemanden mehr in der Welt, ihn zu lieben, als Dich. Aber wer bist Du mir, Du, der Du mich niemals, niemals erkennst, der an mir vorübergeht wie an einem Wasser, der auf mich tritt wie auf einen Stein, der immer geht und weiter geht und mich lässt in ewigem Warten? Einmal vermeinte ich Dich zu halten, Dich, den Flüchtigen[100], in dem Kinde. Aber es war Dein Kind: über Nacht ist es grausam von mir gegangen, eine Reise zu tun, es hat mich vergessen und kehrt nie zurück. Ich bin wieder allein, mehr allein als jemals, nichts habe ich, nichts von Dir – kein Kind mehr, kein Wort, keine Zeile, kein Erinnern, und wenn jemand meinen Namen nennen würde vor Dir, Du hörtest an ihm fremd vorbei. Warum soll ich nicht gerne sterben, da ich Dir tot bin, warum nicht weitergehen, da Du von mir gegangen bist? Nein, Geliebter, ich klage nicht wider Dich, ich will Dir nicht meinen Jammer hinwerfen in Dein heiteres Haus. Fürchte nicht, dass ich Dich weiter bedränge – verzeih mir, ich musste mir einmal die Seele ausschreien in dieser Stunde, da das Kind dort tot und verlassen liegt. Nur dies eine Mal musste ich sprechen zu Dir – dann gehe ich wieder stumm in mein Dunkel zurück, wie ich immer stumm neben Dir gewesen. Aber du wirst diesen Schrei nicht hören, solange ich lebe – nur wenn ich tot bin, empfängst Du dies Vermächtnis von mir, von einer, die Dich mehr geliebt als alle und die Du nie erkannt, von einer, die immer auf Dich gewartet und die Du nie gerufen. Vielleicht, vielleicht wirst Du mich dann rufen, und ich werde Dir ungetreu sein zum ersten Mal, ich werde Dich nicht mehr hören aus meinem Tod: kein Bild lasse ich Dir und kein Zeichen, wie Du mir nichts gelassen; nie wirst Du mich erkennen, niemals. Es war mein Schicksal im Leben, es sei es auch in meinem Tod. Ich will Dich nicht rufen in meiner letzten Stunde, ich gehe fort, ohne dass Du meinen Namen weißt und mein Antlitz. Ich sterbe leicht, denn Du fühlst es nicht von ferne. Täte es Dir weh, dass ich sterbe, so könnte ich nicht sterben.
Ich kann nicht mehr weiter schreiben… mir ist so dumpf im Kopfe… die Glieder tun mir weh, ich habe Fieber… ich glaube, ich werde mich gleich hinlegen müssen. Vielleicht ist es bald vorbei, vielleicht ist mir einmal das Schicksal gütig, und ich muss es nicht mehr sehen, wenn sie das Kind wegtragen… Ich kann nicht mehr schreiben. Leb wohl, Geliebter, leb wohl, ich danke Dir… Es war gut, wie es war, trotz alledem…ich will Dirs danken bis zum letzten Atemzug. Mir ist wohname = "note" ich habe Dir alles gesagt, Du weißt nun, nein, Du ahnst nur, wie sehr ich Dich geliebt, und hast doch von dieser Liebe keine Last[101]. Ich werde Dir nicht fehlen – das tröstet mich. Nichts wird anders sein in Deinem schönen, hellen Leben… ich tue Dir nichts mit meinem Tod… das tröstet mich, Du Geliebter.
Aber wer… wer wird Dir jetzt immer die weißen Rosen senden zu Deinem Geburtstag? Geliebter, höre, ich bitte Dich… es ist meine erste und letzte Bitte an Dich… tu mir es zuliebe[102], nimm an jedem Geburtstag – es ist ja Tag, wo man an sich denkt – nimm da Rosen und tu sie in die Vase. Tu’s, Geliebter, tu es so, wie andere einmal im Jahre eine Messe lesen lassen für eine liebe Verstorbene. Ich aber glaube nicht an Gott mehr und will keine Messe, ich glaube nur an Dich, ich liebe nur Dich und will nur in Dir noch weiterleben… ach, nur einen Tag im Jahr, ganz, ganz still nur, wie ich neben Dir gelebt… Ich bitte Dich, tu es, Geliebter… es ist meine erste Bitte an Dich und die letzte… ich danke Dir… ich liebe Dich, ich liebe Dich… lebe wohl…
Er legte den Brief aus den zitternden Händen. Dann sann er lange nach. Verworren[103] tauchte irgendein Erinnern auf an ein nachbarliches Kind, an ein Mädchen, an eine Frau im Nachtlokal, aber ein Erinnern, undeutlich und verworren. Schatten strömten zu und fort, aber es wurde kein Bild. Er fühlte Erinnerungen des Gefühls und erinnerte sich doch nicht. Ihm war, als ob er von all diesen Gestalten geträumt hätte, oft und tief geträumt, aber doch nur geträumt.
Da fiel sein Blick auf die blaue Vase vor ihm auf dem Schreibtisch. Sie war leer, zum ersten Mal leer seit Jahren an seinem Geburtstag. Er schrak zusammen[104]: ihm war, als sei plötzlich eine Tür unsichtbar aufgesprungen, und kalte Zugluft ströme aus anderer Welt in seinen ruhenden Raum. Er spürte einen Tod und spürte unsterbliche Liebe: innen brach etwas auf in seiner Seele, und er dachte an die Unsichtbare körperlos und leidenschaftlich wie an eine ferne Musik.
Der Amokläufer
Im März des Jahres 1912 ereignete[105] sich im Hafen von Neapel bei dem Ausladen eines großen Überseedampfers ein merkwürdiger Unfall, über den die Zeitungen umfangreiche, aber sehr phantastisch ausgeschmückte[106] Berichte brachten. Obzwar Passagier der „Oceania“, war es mir ebenso wenig wie den anderen möglich, Zeuge[107] seltsamen Vorfalles zu sein. Es ereignete sich zur Nachtzeit während des Kohlenladens und der Löschung der Fracht[108], wir aber, um den Lärm zu entgehen, alle an Land gegangen waren und dort in Kaffeehäusern oder Theatern die Zeit verbrachten. Immerhin meine ich persönlich, dass manche Vermutungen, die wirkliche Aufklärung jener Szene in sich tragen, und die Ferne der Jahre erlaubt mir wohl, das Vertrauen eines Gespräches zu nutzen, das jener seltsamen Episode unmittelbar[109] vorausging.
Als ich in der Schiffsagentur von Kalkutta einen Platz für die Rückreise nach Europa auf der „Oceania“ bestellen wollte, zuckte der Clerk bedauernd die Schultern. Am nächsten Tage teilte er mir erfreulicherweise mit, er könne mir noch einen Platz vormerken, freilich sei es nur eine wenig komfortable Kabine unter Deck und in der Mitte des Schiffes. Ich war schon ungeduldig, heimzukehren. Ich zögerte nicht lange und ließ mir den Platz zuschreiben.
Der Clerk hatte mich richtig informiert. Das Schiff war überfüllt und die Kabine schlecht, ein kleiner gepresster, rechteckiger Winkel in der Nähe der Dampfmaschine. Die stockende, verdickte Luft roch nach Öl und Mod: nicht für einen Augenblick konnte man dem elektrischen Ventilator entgehen. Von unten her ratterte und stöhnte die Maschine, von oben hörte man unaufhörlich das schlurfende[110] Hin und Her der Schritte vom Promenadendeck. So flüchtete[111] ich wieder zurück auf Deck, und wie Ambra einatmete ich den süßlichen weichen Wind, der vom Lande her über die Wellen wehte.
Aber auch das Promenadendeck war voll Enge und Unruhe: es flirrte von Menschen, die mit der flackernden Nervosität plaudernd auf und nieder gingen. Das zwitschernde Geschäker[112] der Frauen, das rastlos kreisende Wandern tat mir irgendwie weh. Ich hatte eine neue Welt gesehen. Nun wollte ich mir übersinnen, zerteilen, ordnen, nachbildend das heiß in den Blick Gedrängte gestalten. Aber es war unmöglich, mit sich selbst auf dieser schattenlosen wandernden Schiffsgasse allein zu sein.
Drei Tage lang versuchte ich, sah resigniert[113] auf die Menschen, auf das Meer. Aber das Meer blieb immer dasselbe, blau und leer, nur im Sonnenuntergang plötzlich mit allen Farben war es übergossen. Und die Menschen kannte ich auswendig nach dreimal vierundzwanzig Stunden. Jedes Gesicht war mir vertraut bis zum Überdruss, das scharfe Lachen der Frauen reizte, das Streiten zweier nachbarlicher holländischer Offiziere ärgerte nicht mehr. So blieb nur Flucht: aber die Kabine war heiß und dunstig, im Salon produzierten englische Mädchen ihr schlechtes Klavierspiel. Schließlich drehte ich entschlossen die Zeitordnung um, tauchte in die Kabine schon nachmittags hinab, nachdem ich mich zuvor mit ein paar Gläsern Bier betäubt, um den Tanzabend zu überschlafen.
Als ich aufwachte, war es ganz dunkel und dumpf in dem kleinen Sarg der Kabine. Meine Sinne waren irgendwie betäubt: ich brauchte Minuten, um mich an Zeit und Ort zurück zu finden. Mitternacht musste jedenfalls schon vorbei sein, denn ich hörte weder Musik noch den rastlosen Schlurf der Schritte.
Ich tastete empor[114] auf Deck. Es war leer. Der Himmel strahlte. Er war dunkel gegen die Sterne, aber doch: er strahlte; es war, als verhüllte[115] dort ein samtener Vorhang ungeheures Licht. Nie hatte ich den Himmel gesehen wie in dieser Nacht, so strahlend, so stahlblau hart und doch funkelnd, quellend von Licht, das vom Mond verhangen niederschwoll. Gerade aber zu Häupten[116] stand mir das magische Sternbild, das Südkreuz, mit flimmernden diamantenen Nägeln ins Unsichtbare gehämmert[117].
Ich stand und sah empor: mir war wie in einem Bade, wo Wasser warm von oben fallt. Ich atmete befreit, rein, und spürte auf den Lippen wie ein klares Getränk die Luft, die weiche, leicht trunken machende Luft, in der Atem von Früchten, Duft von fernen Inseln war. Nun, nun zum ersten Mal, seit ich die Planken betreten habe, überkam mich die heilige Lust des Träumens. So tastete ich weiter, allmählich dem Vorderteil des Schiffes zu, ganz geblendet vom Licht, das immer heftiger aus den Gegenständen auf mich zu dringen schien. Ich hatte Verlangen, mich irgendwo im Schatten zu vergraben, hingestreckt auf eine Matte, den Glanz nicht an mir zu fühlen, sondern nur über mir.
Endlich kam ich bis an den Kiel und sah hinab, wie der Bug[118] in das Schwarze stieß und geschmolzenes Mondlicht schäumend zu beiden Seiten der Schneide aufsprühte. Und im Schauen verlor ich die Zeit. War es eine Stunde, dass ich so stand, oder waren es nur Minuten: im Auf und Nieder schaukelte mich die ungeheure Wiege[119] des Schiffes über die Zeit hinaus. Ich fühlte nur, dass in mich Müdigkeit kam, die wie eine Wollust[120] war. Ich wollte schlafen, träumen und doch nicht weg aus dieser Magie, nicht hinab in meinen Sarg.
Unwillkürlich[121] ertastete ich mit meinem Fuß unter mir ein Bündel Taue. Ich setzte mich hin, die Augen geschlossen und doch nicht Dunkels voll, denn über sie, über mich strömte der silberne Glanz. Unten fühlte ich die Wasser leise rauschen, über mir mit unhörbarem Klang den weißen Strom dieser Welt. Ich fühlte mich selbst nicht mehr, wusste nicht, ob dies Atmen mein eigenes war oder des Schiffes fernpochendes Herz, ich strömte[122], verströmte in diesem ruhelosen Rauschen der mitternächtigen Welt.
Ein leises, trockenes Husten hart neben mir ließ mich auffahren. Ich schrak aus meiner fast schon trunkenen Träumerei. Meine Augen, geblendet vom weißen Geleucht über den bislang geschlossenen Lidern[123], tasteten auf: im Schatten der Bordwand glänzte etwas wie der Reflex einer Brille, und jetzt glühte ein dicker, runder Funke auf, die Glut einer Pfeife. Ich hatte, als ich mich hinsetzte, diesen Nachbarn offenbar nicht bemerkt, der regungslos hier die ganze Zeit gesessen haben musste. Unwillkürlich, noch dumpf in den Sinnen, sagte ich auf Deutsch: „Verzeihung!“ „Oh, bitte…“ antwortete die Stimme Deutsch aus dem Dunkel.
Ich kann nicht sagen, wie seltsam das war, dies stumme Nebeneinandersitzen im Dunkeln, knapp neben einem, den man nicht sah. Unwillkürlich hatte ich das Gefühl, als starre dieser Mensch auf mich, genau wie ich auf ihn starrte: aber so stark war das Licht über uns, dass keiner von keinem mehr sehen konnte als den Umriss im Schatten. Das Schweigen war unerträglich. Ich wäre am liebsten weggegangen, aber das schien doch zu plötzlich. Aus Verlegenheit nahm ich mir eine Zigarette heraus. Das Zündholz[124] zischte auf, eine Sekunde lang zuckte Licht über den engen Raum. Ich sah hinter Brillengläsern ein fremdes Gesicht, das ich nie an Bord gesehen, bei keiner Mahlzeit, bei keinem Gang, und sei es, dass die plötzliche Flamme den Augen wehtat, oder war es eine Halluzination: es schien grauenhaft verzerrt und finster[125]. Aber ehe ich Einzelheiten deutlich wahrnahm, schluckte das Dunkel wieder die flüchtig erhellten Linien fort, nur den Umriss sah ich einer Gestalt, dunkel ins Dunkel gedrückt, und manchmal den kreisrunden roten Feuerring der Pfeife im Leeren. Keiner sprach, und dies Schweigen war schwül[126] und drückend wie die tropische Luft. Endlich ertrug ich nicht mehr. Ich stand auf und sagte höflich „Gute Nacht“. „Gute Nacht“, antwortete es aus dem Dunkel, eine heisere[127] harte Stimme. Ich stolperte mich mühsam vorwärts durch das Takelwerk an den Pfosten[128] vorbei. Da klang ein Schritt hinter mir her, hastig und unsicher. Es war der Nachbar von vordem. Unwillkürlich blieb ich stehen. Er kam nicht ganz nah heran, durch das Dunkel fühlte ich ein Irgendetwas von Angst in der Art seines Schrittes.
„Verzeihen Sie“, sagte er dann hastig, „wenn ich eine Bitte an Sie richte. Ich… ich…“ – er stotterte und konnte nicht gleich weitersprechen vor Verlegenheit – „ich… ich habe private… ganz private Gründe, mich hier zurückzuziehen… ein Trauerfall… ich meide die Gesellschaft an Bord… Ich meine nicht Sie… nein, nein… Ich möchte nur bitten… Sie würden mich sehr verpflichten, wenn Sie zu niemandem an Bord davon sprechen würden, dass Sie mich hier gesehen haben… Es sind… sozusagen private Gründe, die mich jetzt hindern, unter die Leute zu gehen… ja… nun… es wäre mir peinlich, wenn Sie davon Erwähnung[129] täten, dass jemand hier nachts… dass ich…“ Das Wort blieb ihm wieder stecken, ich beseitigte rasch seine Verwirrung, indem ich ihm eiligst zusicherte, seinen Wunsch zu erfüllen. Wir reichten einander die Hände. Dann ging ich in meine Kabine zurück und schlief einen dumpfen und von Bildern verwirrten Schlaf.
Ich hielt mein Versprechen und erzählte niemandem an Bord von der seltsamen Begegnung, obzwar die Versuchung keine geringe war. Denn auf einer Seereise wird das Kleinste zum Geschehnis, ein Segel am Horizont, ein Delphin, der aufspringt, ein neu entdeckter Flirt, ein flüchtiger Scherz. Dabei quälte mich die Neugier, mehr von diesem ungewöhnlichen Passagier zu wissen: ich durchforschte die Schiffsliste nach einem Namen, der ihm zugehören konnte, ich musterte die Leute, ob sie zu ihm in Beziehung stehen könnten: den ganzen Tag bemächtigte sich meiner eine nervöse Ungeduld, und ich wartete eigentlich nur auf den Abend, ob ich ihm wieder begegnen würde. Rätselhafte psychologische Dinge haben über mich eine geradezu beunruhigende Macht, es reizt mich bis ins Blut, Zusammenhänge aufzuspüren, und sonderbare Menschen können mich durch ihre bloße Gegenwart zu einer Leidenschaft des Erkennenwollens entzünden, die nicht viel geringer ist als jene des Besitzenwollens bei einer Frau.
Ich legte mich früh ins Bett: ich wusste, ich würde um Mitternacht aufwachen. Und wirklich: ich erwachte um die gleiche Stunde wie gestern. Auf dem Radiumzifferblatt der Uhr deckten sich die beiden Zeiger in einem leuchtenden Strich. Hastig stieg ich aus der schwülen Kabine in die noch schwülere Nacht. Die Sterne strahlten wie gestern und schütteten ein diffuses Licht über das zitternde Schiff, hoch oben flammte das Kreuz des Südens. Alles war wie gestern.
Er saß also dort. Unwillkürlich schreckte ich zurück und blieb stehen. Im nächsten Augenblick wäre ich gegangen. Da regte es sich drüben im Dunkel, etwas stand auf, tat zwei Schritte, und plötzlich hörte ich knapp vor mir seine Stimme, höflich und gedrückt.
„Verzeihen Sie“, sagte er, „Sie wollen offenbar wieder an Ihren Platz, und ich habe das Gefühl, Sie flüchteten zurück, als Sie mich sahen. Bitte, setzen Sie sich nur hin, ich gehe schon wieder“. Ich eilte, ihm meinerseits zu sagen, dass er nur bleiben solle, ich sei bloß zurückgetreten, um ihn nicht zu stören. „Mich stören Sie nicht“, sagte er mit einer gewissen Bitterkeit, „im Gegenteil, ich bin froh, einmal nicht allein zu sein. Seit zehn Tagen habe ich kein Wort gesprochen… eigentlich seit Jahren nicht… Ich kann nicht mehr in der Kabine sitzen, in diesem… diesem Sarg… ich kann nicht mehr… und die Menschen ertrage ich wieder nicht, weil sie den ganzen Tag lachen… Das kann ich nicht ertragen jetzt… ich höre es hinein bis in die Kabine und stopfe mir die Ohren zu… freilich, sie wissen eben nicht, was geht das die Fremden an…“
Er stockte wieder. Und sagte dann ganz plötzlich und hastig: „Aber ich will Sie nicht belästigen… verzeihen Sie meine Geschwätzigkeit[130].“
Er verbeugte sich und wollte fort. Aber ich widersprach ihm dringlich. „Sie belästigen mich durchaus nicht. Auch ich bin froh, hier ein paar stille Worte zu haben… Nehmen Sie eine Zigarette?“ Er nahm eine. Ich zündete an. Wieder riss sich das Gesicht flackernd vom schwarzen Bordrand los, aber jetzt voll mir zugewandt: die Augen hinter der Brille forschten[131] in mein Gesicht. Ein Grauen überlief mich. Ich spürte, dass dieser Mensch sprechen wollte, sprechen musste. Und ich wusste, dass ich schweigen müsse, um ihm zu helfen.
Wir setzten uns wieder. Er hatte einen zweiten Deckchair dort, den er mir anbot. Unsere Zigaretten funkelten, und an der Art, wie der Lichtring, der seinen unruhig im Dunkel zitterte, sah ich, dass seine Hand bebte[132]. Aber ich schwieg, und er schwieg. Dann fragte plötzlich seine Stimme leise: „Sind Sie sehr müde?“
„Nein, durchaus nicht.“ Die Stimme aus dem Dunkel zögerte wieder. „Ich möchte Sie gerne um etwas fragen… das heißt, ich möchte Ihnen etwas erzählen. Ich weiß, ich weiß genau, wie absurd das ist, mich an den ersten zu wenden, der mir begegnet, aber… ich bin… ich bin in einer furchtbaren psychischen Verfassung… ich bin an einem Punkt, wo ich unbedingt mit jemandem sprechen muss… ich gehe sonst zugrunde… Sie werden das schon verstehen, wenn ich… ja, wenn ich Ihnen eben erzähle… Ich weiß, dass Sie mir nicht werden helfen können… aber ich bin irgendwie krank von diesem Schweigen… und ein Kranker ist immer lächerlich für die andern…“
Ich unterbrach ihn und bat ihn, sich doch nicht zu quälen. Er möge mir nur erzählen… ich könne ihm natürlich nichts versprechen, aber man habe doch die Pflicht, seine Bereitwilligkeit anzubieten. Wenn man jemanden in einer Bedrängnis[133] sehe, da ergebe sich doch natürlich die Pflicht zu helfen… „Die Pflicht… seine Bereitwilligkeit anzubieten… die Pflicht, den Versuch zu machen… Sie meinen also auch, Sie auch, man habe die Pflicht… die Pflicht, seine Bereitwilligkeit anzubieten.“ Dreimal wiederholte er den Satz. War dieser Mensch wahnsinnig? War er betrunken?
Aber als ob ich die Vermutung laut mit den Lippen ausgesprochen hätte, sagte er plötzlich mit einer ganz andern Stimme: „Sie werden mich vielleicht für irr halten oder für betrunken. Nein, das bin ich nicht – noch nicht. Nur das Wort, das Sie sagten, hat mich so merkwürdig berührt… so merkwürdig, weil es gerade das ist, was mich jetzt quält, nämlich ob man die Pflicht hat… die Pflicht…“ Er begann wieder zu stottern. Dann brach er kurz ab und begann mit einem neuen Ruck.
„Ich bin nämlich Arzt. Und da gibt es oft solche Fälle, solche verhängnisvolle[134]… ja, sagen wir Grenzfälle, wo man nicht weiß, ob man die Pflicht hat… nämlich, es gibt ja nicht nur eine Pflicht, die gegen den andern, sondern eine für sich selbst und eine für den Staat und eine für die Wissenschaft… Man soll helfen, natürlich, dazu ist man doch da… aber solche Maximen sind immer nur theoretisch… Wie weit soll man denn helfen?… Da sind Sie, ein fremder Mensch, und ich bin Ihnen fremd, und ich bitte Sie, zu schweigen darüber, dass Sie mich gesehen haben… gut, Sie schweigen, Sie erfüllen diese Pflicht… Ich bitte Sie, mit mir zu sprechen, weil ich krepiere[135] an meinem Schweigen… Sie sind bereit, mir zuzuhören… gut… Aber das ist ja leicht… Wenn ich Sie aber bitten würde, mich zu packen und über Bord zu werfen… da hört sich doch die Hilfsbereitschaft auf. Irgendwo endet doch… dort, wo man anfängt mit seinem eigenen Leben, seiner eigenen Verantwortung… irgendwo muss es doch enden… irgendwo muss diese Pflicht doch aufhören… Oder vielleicht soll sie gerade beim Arzt nicht aufhören dürfen? Muss der ein Heiland[136] sein, bloß weil er ein Diplom in lateinischen Worten hat, muss der wirklich sein Leben hinwerfen und sich Wasser ins Blut schütten, wenn irgendeine… irgendeiner kommt und will, dass er edel sei, hilfreich und gut? Ja, irgendwo hört die Pflicht auf… dort, wo man nicht mehr kann, gerade dort…“ Er hielt wieder inne und riss sich auf.
„Verzeihen Sie… ich rede gleich so erregt… aber ich bin nicht betrunken… noch nicht betrunken… auch das kommt jetzt oft bei mir vor, ich gestehe es Ihnen ruhig ein, in dieser höllischen Einsamkeit… Bedenken Sie, ich habe sieben Jahre fast nur zwischen Eingeborenen[137] und Tieren gelebt… da verlernt man das ruhige Reden…. Aber warten Sie… ja, ich weiß schon… ich wollte Sie fragen, wollte Ihnen so einen Fall vorlegen, ob man die Pflicht habe zu helfen… so ganz engelhaft rein zu helfen, ob man… Übrigens ich fürchte, es wird lang werden. Sind Sie wirklich nicht müde?“
„Nein, durchaus nicht.“
„Also… ich möchte Ihnen einen Fall erzählen. Nehmen Sie an, ein Arzt in einer… einer kleineren Stadt… oder eigentlich am Lande… ein Arzt, der… ein Arzt, der…“ Er stockte wieder. Dann riss er sich plötzlich den Sessel heran zu mir. „So geht es nicht. Ich muss Ihnen alles direkt erzählen, von Anfang an, sonst verstehen Sie es nicht… Das, das lässt sich nicht als Exempel, als Theorie entwickeln… ich muss Ihnen meinen Fall erzählen. Da gibt es keine Scham, kein Verstecken… vor mir ziehen sich auch die Leute nackt aus und zeigen mir ihren Grind[138], wenn man geholfen haben will, darf man nicht herumreden und nichts verschweigen… Also ich werde Ihnen keinen Fall erzählen von einem sagenhaften[139] Arzt… ich ziehe mich nackt aus und sage: ich… das Schämen habe ich verlernt in dieser dreckigen Einsamkeit, in diesem verfluchten Land, das Mark[140] aus den Lenden saugt.“
Ich musste irgendeine Bewegung gemacht haben, denn er unterbrach sich.
„Ach, Sie protestieren… ich verstehe, Sie sind begeistert von Indien, von den Tempeln und den Palmenbäumen, von der ganzen Romantik einer Zweimonatsreise. Ja, so sind sie zauberhaft, die Tropen, wenn man sie in der Eisenbahn, im Auto durchstreift: ich habe das auch nicht anders gefühlt, als ich zum ersten Mal herüber kam vor sieben Jahren. Was träumte ich da nicht alles, die Sprachen wollte ich lernen und die heiligen Bücher im Urtext lesen, die Krankheiten studieren, wissenschaftlich arbeiten, die Psyche der Eingeborenen ergründen – so sagt man ja im europäischen Jargon – ein Missionar der Menschlichkeit, der Zivilisation werden. Aber in diesem unsichtbaren Glashaus dort geht einem die Kraft aus, das Fieber greift einem ans Mark, man wird schlapp und faul, wird weich, wie eine Qualle. Irgendwie ist man als Europäer von seinem wahren Wesen abgeschnitten, wenn man aus den großen Städten weg in so eine verfluchte Sumpfstation[141] kommt.
Man sehnt sich nach Europa, träumt davon, wieder einen Tag auf einer Straße zu gehen, in einem hellen steinernen Zimmer unter weißen Menschen zu sitzen, Jahr um Jahr träumt man davon, und kommt dann die Zeit, wo man Urlaub hätte, so ist man schon zu träge[142], um zu gehen. So bleibt man in diesen heißen, nassen Wäldern. Es war ein verfluchter Tag, an dem ich mich in dieses Drecknest verkauft habe…
Übrigens: ganz so freiwillig war das ja auch nicht. Ich hatte in Deutschland studiert, war rechte Mediziner geworden, ein guter Arzt sogar, mit einer Anstellung an der Leipziger Klinik; irgendwo in einem verschollenen Jahrgang der Medizinischen Blätter haben sie damals viel Aufhebens gemacht von einer neuen Injektion, die ich als erster praktiziert hatte. Da kam eine Weibergeschichte, eine Person, die ich im Krankenhaus kennen lernte: sie hatte ihren Geliebten so toll gemacht, dass er sie mit dem Revolver anschoss, und bald war ich ebenso toll wie er. Sie hatte eine Art, hochmütig und kalt zu sein, die mich rasend[143] machte – mich hatten immer schon Frauen in der Faust[144], die herrisch und frech waren, aber diese bog mich zusammen, dass mir die Knochen brachen. Ich tat, was sie wollte, ich – nun, warum soll ich nicht sagen, es sind acht Jahre her – ich tat für sie einen Griff in die Spitalskasse, und als die Sache aufflog, war der Teufel los[145]. Ein Onkel deckte noch den Abgang, aber mit der Karriere war es vorbei. Damals hörte ich gerade, die holländische Regierung werbe[146] Ärzte an für die Kolonien und biete ein Handgeld. Nun, ich dachte gleich, es müsste ein sauberes Ding sein, für das man Handgeld biete, ich wusste, dass die Grabkreuze auf diesen Fieberplantagen dreimal so schnell wachsen als bei uns, aber wenn man jung ist, glaubt man, das Fieber und der Tod springt immer nur auf die andern. Nun, ich hatte da nicht viel Wahl, ich fuhr nach Rotterdam, verschrieb mich auf zehn Jahre, bekam ein ganz nettes Bündel Banknoten, die Hälfte schickte ich nach Hause an den Onkel, die andere Hälfte jagte mir eine Person dort im Hafenviertel[147] ab, die alles von mir herauskriegte, nur weil sie, die verfluchte Katze, so ähnlich war. Ohne Geld, ohne Uhr, ohne Illusionen bin ich dann abgesegelt von Europa und war nicht sonderlich traurig, als wir aus dem Hafen steuerten. Und dann saß ich so auf Deck wie Sie, wie alle saßen, und sah das Südkreuz und die Palmen, das Herz ging mir auf-ah, Wälder, Einsamkeit, Stille, träumte ich! Nun – an Einsamkeit bekam ich gerade genug. Man setzte mich nicht nach Batavia oder Surabaya, in eine Stadt, wo es Menschen gibt und Klubs und Golf und Bücher und Zeitungen, sondern – nun, der Name tut ja nichts zur Sache – in irgendeine der Distriktstationen, zwei Tagereisen von der nächsten Stadt. Ein paar langweilige Beamte, ein paar Halfcast[148], das war meine ganze Gesellschaft, sonst weit und breit nur Wald, Plantagen, Dickicht[149] und Sumpf[150].
Im Anfang war es noch erträglich. Ich trieb allerhand[151] Studien; einmal, als der Vizeresident auf der Inspektionsreise mit dem Automobil umgeworfen und sich ein Bein zerschmettert hatte, machte ich ohne Gehilfen eine Operation, über die viel geredet wurde. Ich sammelte Gifte und Waffen der Eingeborenen, ich beschäftigte mich mit hundert kleinen Dingen, um mich wach zu halten. Aber all dies ging nur, solang die Kraft von Europa her in mir noch funktionierte; dann trocknete ich ein. Die paar Europäer langweilten mich, ich brach den Verkehr ab, trank und träumte in mich hinein. Ich hatte ja nur noch zwei Jahre, dann war ich frei mit Pension, konnte nach Europa zurückkehren, noch einmal ein Leben anfangen. Eigentlich tat ich nichts mehr als warten. Und so säße ich heute noch, wenn nicht sie… wenn das nicht gekommen wäre.“
Die Stimme im Dunkeln hielt inne. Auch die Pfeife glimmte[152] nicht mehr. So still war es, dass ich mit einem Male wieder das Wasser hörte. Ich hätte mir gern eine Zigarette angezündet, aber ich hatte Furcht vor dem grellen Aufschlag des Zündholzes und dem Reflex in seinem Gesicht. Er schwieg und schwieg. Ich wusste nicht, ob er zu Ende sei oder ob er schlief, so tot war sein Schweigen. Da schlug die Schiffsglocke einen geraden, kräftigen Schlag: ein Uhr. Er fuhr auf; ich hörte wieder das Glas klingen. Offenbar tastete die Hand suchend zum Whisky hinab. Ein Schluck gluckste leise – dann plötzlich begann die Stimme wieder, aber jetzt gleichsam gespannter, leidenschaftlicher.
„Ja also… warten Sie… ja also, das war so. Ich sitze da droben[153] in meinem verfluchten Nest. Es war gerade nach der Regenzeit, kein Mensch war gekommen, kein Europäer, täglich hatte ich dagesessen mit meinen gelben Weibern im Haus und meinem guten Whisky. Ich war damals ganz europakrank; wenn ich irgendeinen Roman las von hellen Straßen und weißen Frauen, begannen mir die Finger zu zittern. Ich kann Ihnen den Zustand nicht ganz schildern, es ist eine Art Tropenkrankheit, eine wütige, fiebrige und doch kraftlose Nostalgie. So saß ich damals, ich glaube über einem Atlas, und träumte mir Reisen aus. Da klopft es aufgeregt an die Tür, der Boy steht draußen und eines von den Weibern, beide haben die Augen ganz aufgerissen vor Erstaunen. Sie machen große Gebärden[154]: eine Dame sei hier, eine Lady, eine weiße Frau. Ich fahre auf. Ich habe keinen Wagen kommen gehört, kein Automobil. Eine weiße Frau hier in dieser Wildnis?
Ich will die Treppe hinab, reiße mich aber noch zurück. Ich bin nervös, unruhig, denn ich weiß niemanden auf der Welt, der aus Freundschaft zu mir käme. Endlich gehe ich hinunter. Im Vorraum wartet die Dame und kommt mir hastig entgegen. Ein dicker Automobilschleier[155] verhüllt ihr Gesicht. Ich will sie begrüßen, aber sie fängt mir rasch das Wort ab.
„Guten Tag, Doktor“, sagt sie auf Englisch in einer fließenden Art. „Verzeihen Sie, dass ich sie überfalle. Aber wir waren gerade in der Station, unser Auto hält drüben“ – warum fährt sie nicht bis vors Haus, schießt es mir blitzschnell durch den Kopf – „da erinnerte ich mich, dass Sie hier wohnen. Ich habe schon so viel von Ihnen gehört, Sie haben ja eine wirkliche Zauberei mit dem Vizeresidenten gemacht, sein Bein ist wieder in Ordnung, er spielt Golf wie früher. Ah, ja, alles spricht noch davon drunten bei uns, und wir wollten alle unseren brummigen[156] Surgeon[157] und noch die zwei andern hergeben, wenn Sie zu uns kämen. Überhaupt, warum sieht man Sie nie drunten, Sie leben ja wie ein Joghi…“
Und so plappert sie weiter, ohne mich zu Worte kommen zu lassen. Etwas Nervöses ist in diesem Geschwätz, und ich werde selbst unruhig davon. Warum spricht sie so viel, frage ich mich innerlich, warum stellt sie sich nicht vor, warum nimmt sie den Schleier nicht ab? Hat sie Fieber? Ist sie krank? Ich werde immer nervöser, weil ich die Lächerlichkeit empfinde, so stumm vor ihr zu stehen. Endlich stoppt sie ein wenig, und ich kann sie hinaufbitten. Sie macht dem Boy eine Bewegung, zurückzubleiben, und geht vor mir die Treppe empor.
„Nett haben Sie es hier“, sagt sie, in meinem Zimmer sich umsehend. „Ah, die schönen Bücher! die möchte ich alle lesen!“ Sie tritt an das Regal und mustert die Büchertitel. Zum ersten Mal, seit ich ihr entgegengetreten, schweigt sie für eine Minute. „Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“ frage ich. Sie wendet sich nicht um und sieht nur auf die Büchertitel. „Nein, danke, Doktor… wir müssen gleich wieder weiter… ich habe nicht viel Zeit… war ja nur ein kleiner Ausflug… Ach, da haben Sie auch den Flaubert[158], den liebe ich so sehr… wundervoll, ganz wundervoll, die “Education sentimentale„… ich sehe, Sie lesen auch französisch… Was Sie alles können!.. ja, die Deutschen, die lernen alles auf der Schule… Wirklich großartig, so viel Sprachen zu können!..Der Vizeresident schwört auf Sie, sagt immer, Sie seien der einzige, dem er unter das Messer ginge… Übrigens wissen Sie – (sie wendete sich noch immer nicht um) heute kams mir selbst in den Sinn, ich sollte Sie einmal konsultieren… und weil wir eben vorüberfuhren, dachte ich… nun, Sie haben jetzt wohl zu tun… ich komme lieber ein andermal.“
„Deckst du endlich die Karten auf!“ dachte ich mir sofort. Aber ich ließ ichts merken, sondern versicherte ihr, es würde mir nur eine Ehre sein, jetzt und wann immer sie wolle, ihr zu dienen. „Es ist nichts Ernstes… Kleinigkeiten… Weibersachen… Schwindel, Ohnmachten. Heute früh schlug ich, als wir eine Kurve machten, plötzlich hin… der Boy musste mich aufrichten im Auto und Wasser holen… nun, vielleicht ist der Chauffeur zu rasch gefahren… meinen Sie nicht, Doktor?“
„Ich kann das so nicht beurteilen. Haben Sie öfter derlei Ohnmachten?“
„Nein…. das heißt ja… in der letzten Zeit… gerade in der allerletzten Zeit… ja… solche Ohnmachten und Übelkeiten.“
Sie steht schon wieder vor dem Bücherschrank, tut das Buch hinein, nimmt ein anderes heraus und blättert darin. Merkwürdig, warum blättert sie immer so… so nervös? Ich sage mit Absicht nichts.
„Nicht wahr, Doktor, es ist nichts Gefährliches? Keine Tropensache… “
„Ich müsste erst sehen, ob Sie Fieber haben. Darf ich um Ihren Puls bitten…“
Ich gehe auf sie zu. Sie weicht leicht zur Seite.
„Nein, nein, ich habe kein Fieber… gewiss, ganz gewiss nicht… ich habe mich selbst gemessen, jeden Tag, seit… seit diese Ohnmachten kamen. Nie Fieber, immer tadellos 36,4 auf den Strich. Auch mein Magen ist gesund.“